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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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Morawa.
    Bei seiner Ankunft auf dem fest- und binnenländischen Balkan war das ein Tag der Eintagsfliegen gewesen: wo er auch ging, flogen sie am Morgen ihre Kurzstreckenflüge, gerieten am Nachmittag ins Taumeln und setzten am Abend auf zum Sterben, waren dann, spätestens am folgenden Morgen, tot, ohne irgendwie umgefallen zu sein, nicht zur Seite, und erst recht nicht auf den Rücken, standen still und steif, aber so gar nicht totensteif auf ihren hohen gezackten Beinen da, auf den Fensterbrettern, auf den Fernsehern, auf den Betonmischmaschinen, auf den Gießkannen, mit der zarten, an einer Stelle verdickten Form eines Buchstabens, annähernd eines W, oder eines M, auf den durchsichtigen Flügelchen, den Hinterteil des Leibs leicht angehoben wie bereit zum Weiterflug. Einen Tag lang lebten sie angeblich nur, aber diesen einen Tag lang konnte ihnen niemand etwas anhaben, sie entwischten jedem, waren nicht zu fangen. Warum dann aber ihre taglange Panik, die ständigen Luftsprünge? Und wie gewichtslos sie dann waren, als Kadaver. Kadaver?
    Dann der Tag der Marienkäfer, jeder in balkanesischer Großspurigkeit mit mindestens fünfzehn bis zwanzig schwarzen Punkten auf seinem Roter-Stern-Belgrad-Buckel. Nach diesem der Tag der Weinbergschnecken, der Tragesack des Wanderers, als er ihn für eine Rast und Wegzehrung vom Rücken streifte, behangen mit Schneckenhäusern so wie der Sack eines Jakobspilgers mit Muscheln, nur daß die Schnecken lebendig waren, und wie!, ineinander verknäult, und ihre Gehäuse, anders als die Muscheln, sich fast lautlos aneinanderrieben, ohne ein Klappern, und er bei Gott kein Pilger war, und wenn, so entschlossen in der Gegenrichtung zu sämtlichen eingeführten Pilgerzielen.
    Dann der Tag der Smaragdeidechsen, der goldgrünen, die einen reglos in der Sonne am Fuße der Klostermauern, die andern in einem fort, hin und her, bis zum Sonnenuntergang, vor ihm über die Landstraßen der Tiefebene rennend, drachengroß, vor allem der Kopf, so im Dahinpreschen, froschplatt dort, wo sie überfahren worden waren. Dann der Tag der Schwalben, die dir unversehens hoch oben in dem Blau des Himmels erschienen, von nirgendwoher geflogen, wie von dem Himmelblau selber hervorgerufen, und zwar zuhauf, und so binnen einer Sekunde den eben noch leerblauen Luftraum durchkreuzend, -segelnd, -kurvend, -flatternd, -flitternd. Und dann der Tag der Bienen in den weißen Kleeblüten, die davon zitterten. Und dann der Tag der sich paarenden Libellen, die so, gepaart, ineinander, gemeinsam weiterflogen. Und dann der Tag der Balkanpferde, wie sie die fast senkrechten Böschungen hinaufsprangen und -liefen, gemsengleich. Und dann der Tag des Springkrauts, wie es dem Wanderer platzte, leise, leise, in der hohlen Faust. Dann der Tag der »wirklichen« Balkanfalterpaare, das Handgelenk des Gehenden umflatternd als ein bewegliches Armband. Und dann, weißt du, der Tag des ersten Lindenblütendufts, ein Schwall aus den Zwischenräumen, in einer Plötzlichkeit, die alles andere tat als erschrecken. Der Tag des Irregehens. Der Fiebertag. Der Tag des Fliederhimmels. Der Tag des Schlafs in der Feldscheune. Der Tag, da er am Wegrand saß und zeichnete, vor einem Gewitter, und ihm da, weißt du, als der Blitz einschlug in der Nähe, der Zeichenstift ausscherte zu einem dicken Strich quer über das Blatt. Und zwischendurch der Tag des Hohen Sommers mit Grillenhören von sämtlichen Erdhorizonten. Und am Vortag: Wildentenzüge wie im Spätherbst.
    Erlebte er sonst denn nichts? (Unser Zwischenrufer konnte es nicht lassen.) Doch: Der arme Wirt, bei dem er dir einmal zu Mittag aß, war taub und schabte für ihn die letzten Krümel zusammen: was für ein Geschmack! Und einmal saß er euch taglang an einer Landstraßenkreuzung. Und? In einem verlassenen Garten dort wuchsen Gladiolen. Und die Wolken kamen meistens von Osten. In den Schulbussen saßen die Kinder zusammengedrängt im Heck. Die Wahlplakate, selbst die frischen, wirkten alle ausgebleicht. Nußbäume und Zwetschkenbäume auch weit außerhalb der Dörfer, und er nährte sich von den Vorjahrsnüssen im Gras und von den am Baum gedörrten Zwetschken. Staubfahnen wanderten ihm voraus am Straßenrand oder drehten sich im Wirbelwind am Boden um sich selber. Und der Steg, der unvermutet durch einen abgelegenen Friedhof führte. Und in einem der Klöster, sagen wir, von Grgetek, das Wandbild, wo Jesus beim Letzten Abendmahl mit den Jüngern unter freiem Himmel saß, unter Bäumen, mit
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