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Die morawische Nacht

Die morawische Nacht

Titel: Die morawische Nacht
Autoren: Peter Handke
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umgeben, was ihn an die Wehrmauer gegen die Türken in seinem Alten Dorf erinnerte – hier aber, so das Email-Etikett, einem »europäischen Kulturdenkmal« galt.
    Noch und noch verlassene Häuser jedenfalls, erst allmählich sich sehen lassend zwischen und hinter den vielen Neubauten. Geschlossen die Fensterläden, die Befestigungshaken daneben im Leeren baumelnd. Großes Blühen dort in den gleichermaßen verlassenen Hintergärten, mitten im dichtesten Unkraut ein Fliederstrauch, mit dem balkanisch-türkischen Namen »Jergovan«, und das Leuchten einer zwischen Brennesseln wachsenden einzelnen Pfingstrosenblüte, alle Farben der Welt in dem Blüteninnern versammelt, als ein einziges Glühen. Und all das Früchtetragen, die Bäume voll mit Äpfeln, Pflaumen, Marillen, in den Gärten der so lang schon Abwesenden, oder Toten? Er fragte aber nicht, wollte das Wort »Tod« jetzt nicht hören. Und die eine Ringeltaube in einer Astgabel, mit keinem Brief im Schnabel, oder doch?
    Im Schwung zurück zu den Lebenden. Wo waren sie? Da: auf einer Bank an einer Wand in der Abendsonne saßen wieder ein paar, alte Frauen diesmal, und auch für sie gab es ihn nicht, einzig das Mobiltelefon, das eine jede von ihnen in der Hand hielt, die Augen darauf fixiert, sie alle in Erwartung eines Anrufs ihrer Kinder und Enkel, der Ausgewanderten, aus Kanada, aus Australien, aus Brasilien.
    Außerhalb der ehemaligen Enklave, auf dem Weg auf die Morawische Nacht, auf sein Schiff zu: keine Gefahr mehr? Er aber spürte sie immer noch, aus den Jahren der Umzingelung, oder bildete sie sich ein, als eines seiner Lebenselemente, oder eines der Elemente seiner Geschichte. Die Bedrohung blieb für ihn da. Fast hoffte er auf einen Angriff, der ihn an der Rückkehr gehindert hätte, da, an dem Kreuzweg zwischen den Feldern. Nichts da. Ein Schußknall, der von einem geplatzten Ballon oder einem Autoreifen kam: Enttäuschung. Eine Wildsau preschte mit einem jähen Schnauben hinter ihm aus dem Gebüsch auf ihn los: leider nur wieder ein Läufer, schweißtriefend, in sich gekehrt. Die Gestalt an der einzelnen Rieseneiche vor den Morawa-Auen (gib, daß sie mir auflauert): ein anderer einsamer Wanderer, an den Baum gestemmt, als wollte er dessen Kraft auf sich übertragen. Und wieder so eine Gestalt, an wieder einem Kreuzweg in der Flußebene, in der Hand etwas Metallisches mit spürbar scharfen Kanten, das in der tiefen Sonne, sonst alles schon im Halbdämmer, scheinböse hervorblinkte: ein dritter einsamer Wanderer, der im Stehen ein Buch las. Und die schwarze Dogge, die aus dem Auengrün auf ihn losstürmte, hob sich dann in die Lüfte und war, zu früh gefreut, ein Rabe. Und der da brüllte, quer durch die auch sommers immer noch brachen Felder: »O Alter, o Wut, o Verzweiflung!«, das war ein Schauspieler, ein gar nicht so alter, ein blutjunger, der für seine Alten-Rolle im »Cid« übte.
    Aber endlich dann ein nicht bloß gespielt Verzweifelter: einer, der sich verirrt hatte – ein Einheimischer, in seiner Stammgegend.
    Kein Rückwärtsgehen mehr, das ihm eingefleischte – nur noch vorwärts. Die Dämmerung endlich, und mit ihr der Flußgeruch, und hinter den Erlen und Pappeln das Aufflammen der Leuchtschrift seines Bootes, nein, seiner Herberge, MORAWISCHE NACHT, einige Buchstaben durch die Bäume verdeckt, mehr die Konsonanten als die Vokale. Rauch, schwarzer, stark, aus dem Schiffskamin: Feuer? Man (sie) tat ihm nicht den Gefallen. Heiße Freude, und zugleich schob er die Rückkehr hinaus. So war es, oder so wollte es die Geschichte. Oder vielleicht fand er auch wirklich eine Zeitlang die Passage nicht, auf einer Strecke, die er doch Hunderte Male gegangen war. Bombentrichter auf Bombentrichter zu durchqueren – das letzte Stück seiner Reise: eine Bombentrichterwanderung. Die Trichter stammten aus dem Zweiten Weltkrieg, vom Überfall des Tausendjährigen Deutschen Reiches auf das Land, das damals das erste Mal ex-gegangen war. Und da er schon bei den Zahlen war: Es hatte sich dabei um die erste von drei Bombardierungen des Landes im Zwanzigsten Jahrhundert gehandelt (im Einundzwanzigsten Jahrhundert nach der Geburt des Gottessohns, der für uns Mensch geworden und gestorben ist, damit wir in ihm leben, war das bisher noch nicht nötig geworden).
    Nicht groß waren die Trichter, dafür sozusagen dicht gesät, einer hinter dem andern, in einer ziemlich schnurgeraden Linie, sozusagen in einer Luftlinie quer durch die Morawa-Aue auf den Fluß zu,
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