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Ausgeloescht

Ausgeloescht

Titel: Ausgeloescht
Autoren: Cody Mcfadyen
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Kapitel 1 - 1974
    »Ich werde das Leben sein«, sagte der Mann zu dem Jungen.
    Der Junge deutete den Tonfall seines Vaters richtig und machte sich bereit.
    »Ja, Vater.«
    »Du wirst du sein, und ich werde das Leben sein.«
    »Ja, Vater.«
    Es war ein Rollenspiel.
    Der Vater streckte die offene Hand aus. Es war eine große, harte Hand. Das wusste der Junge aus eigener Erfahrung, denn er hatte diese Hand häufig zu spüren bekommen.
    »Gib mir einen Dollar«, verlangte der Vater.
    »Ich habe keinen Dollar.«
    Der Vater betrachtete den Jungen, und der Junge schaute seinen Vater an und wartete. Der Vater hatte ein derbes Gesicht, passend zu den Händen; sein ganzer Schädel war grob, als wäre er aus einem Betonblock oder aus Schlacke gehauen. Seine Augen waren eisblau und eiskalt - die Augen eines Philosophen und eines Mörders.
    »Wird's bald«, sagte der Vater. Er blickte auf den Tisch, tippte mit einem seiner dicken Finger darauf. »Na los. Ich frage nur noch einmal.« Er richtete den Blick wieder auf das Gesicht seines Sohnes. »Gib mir einen Dollar.« Wieder streckte er die Hand aus, schloss und öffnete sie, um seine Forderung zu unterstreichen.
    »Aber ich habe keinen Dollar, das habe ich doch schon gesagt. Das ändert sich auch nicht, wenn du mich zweimal fragst.«
    Der Vater entgegnete die Bemerkung mit einem stechenden Blick. Was der Junge gerade getan hatte, war gefährlich gewesen, aber auch mutig, und vor allem der Mut zählte.
    »Und ich sagte, ich werde das Leben sein«, sprach der Vater gefährlich leise. »Wenn das Leben einen Dollar von dir verlangt, solltest du ihm diesen Dollar geben, oder das Leben bestraft dich so lange, bis du es tust.«
    Der Tisch war klein, und die Arme des Vaters waren lang. Seine Hand zuckte vor und traf mit furchtbarer Wucht die linke Gesichtshälfte des Jungen, dem augenblicklich schwarz vor Augen wurde. Als er zu sich kam, lag er bäuchlings auf dem Fußboden. Der Stuhl war umgekippt, und die Handflächen des Jungen berührten den Boden dort, wo er seinen Sturz instinktiv abgefangen hatte. Ihm dröhnte der Schädel, und er schmeckte Blut.
    »Steh auf, Sohn.«
    Dem Jungen wurde schwindlig. Er suchte nach Worten. »Ja, Vater«, sagte er schließlich. Er war dankbar, so dankbar.
    Der Junge war erst zehn, hatte aber schon ein bisschen von dem gelernt, wie die Welt funktionierte: Das Leben geht immer weiter und weiter - mit dir, wenn du stark bist, und ohne dich, wenn du schwach bist. Sein Vater wollte, dass er stark war. Konnte ein Vater seinem Sohn seine Liebe deutlicher zeigen?
    Der Junge mühte sich noch. Er schwankte kurz, riss sich zusammen. Schwäche war das größte Vergehen, Feigheit das zweitgrößte.
    »Du darfst niemals nur einstecken, Junge«, sagte sein Vater. »Du musst immer zurückschlagen. Immer. Wenn du einen Kampf zu verlieren drohst, lass den Gegner wenigstens für jeden Schlag, den er dir verpasst, teuer bezahlen.«
    »Ja, Sir«, sagte der Junge artig. Er brachte die Fäuste hoch und staunte einmal mehr, wie klein seine Hände waren im Vergleich zu den riesigen Pranken seines Vaters.
    »Das Leben will einen Dollar«, sagte der Vater und schlug zu. Der Junge versuchte sich zu wehren, konnte aber keinen einzigen Treffer landen. Er blieb still, als sein Vater ihn bewusstlos schlug, und vergoss keine Träne.
    Der Junge kam in seinem Bett zu sich, zitternd und von Schmerzen geplagt. Er wollte stöhnen, verkniff es sich aber, denn sein Vater saß neben ihm auf dem Bettrand, ein Koloss im Dunkeln, versilbert vom Mondlicht, das durch die Vorhänge sickerte.
    »Ich bin das Leben, und das Leben will einen Dollar, Sohn«, sagte er. »Ich werde jede Woche nach diesem Dollar fragen, bis du ihn mir gibst. Hast du verstanden?«
    »Ja, Sir«, sagte der Junge durch die aufgeplatzten Lippen und gab sich Mühe, seine Stimme kräftig und deutlich klingen zu lassen.
    Sein Vater schaute aus dem Fenster, betrachtete den Mond, als hätten sie beide etwas zu bedauern. Vielleicht war es ja auch so.
    »Weißt du, was Freude ist, Sohn?«
    »Nein, Sir.«
    »Freude ist alles, was nach dem Überleben kommt.«
    Der Junge prägte sich das ein, legte es dort ab, wo er die großen und bedeutsamen Wahrheiten aufbewahrte. Dann wartete er, denn sein Vater war noch nicht fertig; er konnte es sehen.
    »Wir haben in diesem Leben nur ein Ziel, und das ist der nächste Atemzug. Alles andere sind bloß Lügen. Man braucht Essen, man braucht einen Unterschlupf, man braucht einen Platz zum Schlafen
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