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Die Entdeckung des Himmels

Die Entdeckung des Himmels

Titel: Die Entdeckung des Himmels
Autoren: Harry Mulisch
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Prolog
    Augenblick!
    Was ist?
    Auftrag ausgeführt. Die Sache ist rund.
    Welche Sache?
    Ja, entschuldigen Sie bitte. Das Allerwichtigste. Die Hauptsache.
    Die Hauptsache? Wovon redest du?
    Vom Testimonium.
    Ach , natürlich! Lieber Himmel , es ist doch schrecklich. Ununterbrochen widmet man sich den wesentlichen Dingen und verwendet sein ganzes Können darauf , und dann kommt der Augenblick , in dem man sie schlichtweg vergißt oder eben im Handumdrehen erledigt.
    Vielleicht sollten Sie langsam etwas mehr delegieren.
    Und du vielleicht wissen , was sich gehört , wenn jemand mal ein Geständnis macht! Mehr delegieren! Du scheinst noch immer nicht zu wissen , was uns bevorsteht. Warum , meinst du wohl , ist dieses Projekt gestartet worden? Da wir gerade von zwingen sprechen … sag mir bitte , wie lange hast du dich mit diesem Dossier beschäftigt?
    Gut siebzig Jahre Menschenzeit.
    Laß hören.
    Wo soll ich anfangen?
    Das weißt du selbst am besten. Auf jeden Fall erst mal kurz etwas über das Vorspiel.
    Ich habe selten ein derartig kompliziertes Programm bearbeitet. Gott sei Dank lassen wir die Dinge im allgemeinen ihren Lauf nehmen, und bei früheren Aufgaben hatte ich genügend Zeit zur Verfügung. Da die Angelegenheit jedoch aus irgendeinem Grund vor dem Ende des Jahrtausends aus der Welt sein sollte, verfügte ich diesmal über höchstens vier Generationen, um jemanden zu finden, der den Auftrag ausführen könnte. Bei einem mehr oder weniger normalen Verlauf war in so kurzer Zeit absolut keine Lösung zu finden. Den Auftrag hätten wir im Grunde genommen jedem beliebigen Funken geben können, aber das wäre sinnlos gewesen.
    Das Problem bestand darin, daß er sich, wenn er tatsächlich unser Abgesandter sein sollte, auch dann noch an den Auftrag erinnern können mußte, wenn er sich in Geist und Fleisch materialisiert hatte. Das heißt, er mußte auf diese ausgefallene Idee kommen können und obendrein den Willen und den Mut besitzen, sie auszuführen. Ich sage »er«, denn für eine »sie« schien mir das nichts zu sein. Natürlich befand sich unter den unendlichen menschlichen Möglichkeiten, über die wir hier verfügen, ein Funke, der die Voraussetzungen erfüllte, aber wie sollten wir ihn auf die Erde bekommen? Zuerst mußten wir also diese eine DNS-Sequenz herausfinden, mit der er sich materialisieren konnte. Ich brauche Ihnen nicht zu erzählen, daß eine gerollte DNS-Doppelspirale mit der Information für einen ganzen Menschen, die sich in jedem Kern jeder der hunderttausend Milliarden von Zellen befindet, insgesamt nicht mehr als ein hunderttausendstel Gramm wiegt, daß dieser hermetische Caduceus aber ausgerollt etwa genauso lang ist wie der Mensch selbst: Die Anzahl der möglichen Kombinationen auf molekularer Ebene ist gigantisch. Geschrieben in den Drei-Buchstaben-Worten des Vier-Buchstaben-Alphabets wird ein Mensch von einer genetischen Geschichte bestimmt, mit der ein Äquivalent von fünfh undert Bibeln gefüllt werden kann. Das haben die Menschen inzwischen auch herausgefunden.
    So ist es. Sie haben unser ausgefuchstestes Konzept entschlüsselt , nämlich daß Leben letztendlich Lesen heißt. Sie selber sind das Buch der Bücher. Im Jahr 1869 ihrer Zeitrechnung entdeckten diese verflixten Wesen die DNS im Zellkern , und wir redeten uns damals ein , daß das wenig zu bedeuten habe , weil sie nie auf die Idee verfallen würden , diese Säure könnte einen Code enthalten , den sie würden knacken können – aber hundert Menschenjahre später hatten sie die genetische Geheimschrift bis in die letzten Feinheiten entziffert. Mit genau diesem Code haben wir sie viel zu schlau gemacht.
    Aber hundert Menschenjahre später hatte auch ich meine Hausaufgaben gemacht. Zunächst gelang es uns, den geheimen Namen unseres Mannes aufzuschreiben – aber das war noch nichts im Vergleich zu dem, was danach noch auf uns zukam. Wir mußten nämlich auch die Großeltern und Eltern ausfindig machen, die die erwünschte Kombination innerhalb von fünfzig Jahren zustande bringen würden. In seiner unergründlichen Weisheit, die ihn zuweilen ja wohl auch selbst befremdet, hat der Chef es nun einmal so eingerichtet, daß wir in unserem Unendlichen Licht für jede mögliche Kombination aus einer Samenzelle und einer Eizelle jeweils einen Funken haben. Bei jedem Samenerguß wirft ein Mann dreihundert Millionen Spermien aus: im Hinblick auf eine weibliche Eizelle ist das bereits eine ebensolche Zahl möglicher Menschen,
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