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Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst

Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst

Titel: Die Liebesangst - Ragde, A: Liebesangst
Autoren: Anne B. Ragde
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1
    Sie ging immer dann, wenn ihr die ersten Anzeichen dafür auffielen, dass seine Liebe allmählich zu erlöschen begann. Doch dieses Mal hatte sie so lange mit dem Davonlaufen gewartet, bis sie spürte, wie ihr Puls ein wenig schneller wurde, wann immer er sie mit ernster Miene ansah und auf eine besondere Weise schnell Luft holte, ehe er etwas sagte. Sie wartete auf den Satz: Diese Beziehung läuft nicht mehr so richtig.
    Mehrfach schon hatte sie verdrängt, dass sie diese Worte insgeheim erwartete, aber als die Erkenntnis dann im Bruchteil einer Übelkeit erregenden Sekunde bei ihr ankam, rief sie sofort die Kontoauskunft an, überprüfte ihr Guthaben, packte einen Koffer und drei Taschen, schmierte sich ein paar Brote als Proviant, füllte eine Thermoskanne mit Tee, lud alles ins Auto und fuhr nach Norden, bis sie vom Anblick der vorüberziehenden Telegraphenmasten und Peitschenlampen total erschöpft war.
    Bei einem Schild, auf dem mit Hand geschrieben ZIMMER FREI stand, fuhr sie von der Straße ab und mietete sich im ersten Stock ein; ein Schlafzimmer mit eigenem Bad, im Haus eines alten Ehepaares mit einem Elchhund, der an einer langen Leine zwischen Wohnhaus und Holzschuppen hin und her lief. Dort wohnte sie drei Tage. Als seine Nachrichten immer panischer wurden, voller Verzweiflung, voller Liebe, wie sie sie lange, lange nicht mehr erlebt hatte, rief sie ihn bei der Arbeit an, mitten in der Mittagspause.
    »Ich bin’s.«
    »O Gott, Ingunn. Warte eine Sekunde, ich geh nur schnell auf den Gang …«
    »Keine Panik. Ich leg schon nicht auf. Schließlich habe ich ja bei dir angerufen!«
    Sie hörte, wie er hart ins Telefon atmete, sah vor sich, wie er den kleinen Gegenstand, ein Nokia 8800 Saphire, an seine Wange presste, während er eilig auf dem langen Gang der Anwaltskanzlei eine ungestörte Stelle suchte. Sein Büro lag einen Stock höher, zu weit weg, um sich dort hinzuflüchten, sie hörte, wie er eine Tür öffnete, wusste, dass er auf den kleinen Balkon hinausging, auf dem sich nach dem Essen alle Raucher versammelten. Da die Mittagspause gerade erst angefangen hatte, stand er dort allein, das alles wusste sie über ihn, und noch viel mehr. Und fast alles an ihm glaubte sie zu lieben, er fehlte ihr so sehr, dass sie Salzgeschmack im Mund hatte.
    Sie schaute den Elchhund an, der auf dem zertrampelten Rasen aussah wie ein graues Fellbüschel, er hatte sich die Leine um das eine Hinterbein gewickelt und zog mit dem Fuß daran, obwohl er zu schlafen schien. Seine buschigen Ohren drehten sich wie kleine Radargeräte, während er die Augen geschlossen hielt.
    »Wo bist du, Ingunn? Ich habe bestimmt tausendmal bei dir angerufen. Hattest du kein Netz? Gestern Abend hätte ich fast die Polizei alarmiert. Bist du noch dran …?«
    »Ja … Es ist aus mit uns.«
    »Was? Hast du einen anderen? Willst du mir das damit sagen?«
    »Nein … Ich …«
    »Aber was zum Teufel soll das dann alles? Was zum Henker willst du damit …?«
    »… Ich hatte das Handy extra ausgeschaltet. Die ganze Zeit über.«
    Es wurde still.
    »Ich werde in zwei Wochen wieder zurück sein, und dann teilen wir das unter uns auf, was wir uns zusammen angeschafft haben«, sagte sie.
    »Ich verstehe überhaupt nichts mehr.«
    »Wir passen einfach nicht zusammen.«
    »Das ist doch lächerlich. Lass uns treffen und darüber sprechen. Du kannst unmöglich allein entscheiden, ob wir beide zusammenpassen oder nicht!«
    »Ich habe gesagt, es ist aus.«
    »Also hast du doch jemand anderen kennengelernt? Gib es zu!«
    »Nein, das habe ich nicht.«
    »Du lügst.«
    »Nein. Ich will einfach nur allein sein.«
    »Lieber als mit mir zusammen?«
    »Ja.«

2
    J edes Mal, wenn sich Ingunn von einem Mann trennte, litt sie meist mehr als derjenige, den sie verlassen hatte. Sie bildete sich ein, die Männer zu lieben und sie deshalb verlassen zu müssen. Das Einzige, was sie in diesen Situationen stets aufrecht hielt, war die pure Erleichterung darüber, nicht selbst am anderen Ende der Leitung zu sein.
    Die Angst, verlassen zu werden, Ablehnung zu erfahren, den Rücken zugekehrt zu bekommen, nicht schön genug, klug genug, gut genug im Bett zu sein, nicht die attraktivste Frau, nicht die Auserwählte, nicht die Erste zu sein, an die er dachte, wenn etwas Schönes oder Trauriges passierte, nicht die Allererste zu sein, mit der er alles teilen wollte, ob es sich nun um eine ungerechte Buße wegen Falschparkens oder um etwas Witziges auf YouTube handelte –
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