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Trübe Wasser sind kalt

Trübe Wasser sind kalt

Titel: Trübe Wasser sind kalt
Autoren: Patricia Cornwell
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Kapitel 1
    Noch vor Anbruch des letzten Tages im blutigsten Jahr, das Virginia seit dem Bürgerkrieg erlebt hatte, machte ich Feuer und setzte mich an das dunkle Fenster, das mir nach Sonnenaufgang das Meer zeigen würde. Ich saß im Morgenmantel im Schein der Lampe und sah die Jahresstatistik meiner Behörde über die Verkehrsunfälle, Prügeleien, Schießereien und Messerstechereien durch, als um Viertel nach fünf das Telefon aufdringlich klingelte.
    »Verdammt«, brummte ich, denn meine Bereitschaft, an Dr. Philip Mants Telefon zu gehen, ließ spürbar nach. »Schon gut, schon gut.«
    Sein verwittertes Cottage in der kleinen Gemeinde Sandbridge direkt an der Küste Virginias zwischen dem Marinestützpunkt und dem Naturschutzgebiet Back Bay lag versteckt hinter einer Düne. Mant war mein Leichenbeschauer für den Bezirk Tidewater. Seine Mutter war bedauerlicherweise an Heiligabend gestorben. Unter normalen Umständen hätte seine Reise nach London, wo er die Familienangelegenheiten regeln mußte, keine Notlage in der Gerichtsmedizin Virginias geschaffen, aber die stellvertretende forensische Pathologin war im Mutterschaftsurlaub, und der Leichenschauhaus-Aufseher hatte gerade gekündigt.
    »Bei Dr. Mant«, meldete ich mich. Vor den Fensterscheiben zauste der Wind die dunklen Umrisse der Kiefern.
    »Hier ist Officer Young von der Polizei Chesapeake«, sagte jemand, der wie ein im Süden geborener und aufgewachsener Weißer klang. »Könnte ich bitte Dr. Mant sprechen?«
    »Er ist verreist«, entgegnete ich. »Kann ich Ihnen irgendwie behilflich sein?«
    »Sind Sie Mrs. Mant?«
    »Ich bin Dr. Kay Scarpetta, Chief Medical Examiner. Ich vertrete Dr. Mant.«
    Der Anrufer zögerte und fuhr dann fort: »Wir haben einen Hinweis auf einen Todesfall bekommen. Einen anonymen Anruf.«
    »Wissen Sie, wo es sich ereignet haben soll?« Ich hatte mir schon Stift und Papier bereitgelegt. »Auf dem Schiffsfriedhof der Marine.«
    »Wie bitte?« Ich blickte auf. Er wiederholte seine Worte.
    »Um wen handelt es sich, einen Navy-SEAL?« Ich war verblüfft, denn meines Wissens hatten nur diese speziell ausgebildeten Marinetaucher im Manövereinsatz Zugang zu den in der Werft vertäuten, ausrangierten Schiffen.
    »Wir wissen nicht, wer es ist, aber er könnte nach Überbleibseln aus dem Bürgerkrieg gesucht haben.«
    »Im Finstern?«
    »Ma'am, das Gelände ist militärischer Sicherheitsbereich. Aber das hat die Leute schon früher nicht davon abgehalten, sich da herumzutreiben. Sie stehlen sich in Booten hin, und das geht immer nur im Dunkeln.«
    »So etwas hat der anonyme Anrufer angedeutet?«
    »So ziemlich.«
    »Klingt ja interessant.«
    »Das dachte ich auch.«
    »Und die Leiche ist noch nicht gefunden worden«, sagte ich, denn ich wunderte mich immer noch, warum dieser Officer es für nötig gehalten hatte, zu so früher Stunde einen Gerichtspathologen zu verständigen, wenn nicht einmal eindeutig feststand, daß es eine Leiche gab oder daß überhaupt jemand vermißt wurde.
    »Wir sind auf der Suche danach, und die Navy schickt ein paar Taucher, da kriegen wir die Sache in den Griff, wenn alles gutgeht. Ich wollte Sie lediglich darauf aufmerksam machen. Und richten Sie Dr. Mant mein Beileid aus.«
    »Ihr Beileid?« rätselte ich, denn wenn er von Dr. Mants Situation wußte, warum hatte er dann nach ihm gefragt. »Ich habe gehört, seine Mutter ist gestorben.« Ich setzte die Spitze meines Stifts auf das Blatt Papier. »Würden Sie mir bitte Ihren vollen Namen nennen, und wie Sie zu erreichen sind?«
    »S. T. Young.« Er gab mir eine Telefonnummer, und wir legten auf.
    Ich starrte in das schwache Feuer im Kamin und fühlte mich unbehaglich und einsam, als ich aufstand, um Holz nachzulegen. Ich wäre viel lieber in Richmond gewesen, in meinem eigenen Haus mit Kerzen in den Fenstern und der mit altem Christbaumschmuck dekorierten Fräser-Tanne. Ich wollte Mozart und Händel hören statt des schrill ums Dach pfeifenden Winds, und ich wünschte, ich hätte Mants freundliches Angebot, in seinem Haus statt in einem Hotel zu wohnen, nicht angenommen. Ich machte weiter mit der Überprüfung der Statistik, aber meine Gedanken schweiften immer wieder ab. Ich stellte mir das schlammige Wasser des Elizabeth River vor, das zu dieser Jahreszeit wohl eine Temperatur von weniger als 15 Grad hatte, und die Sicht betrug bestenfalls einen halben Meter. Gut, manche tauchten im Winter in der Chesapeake Bay nach Austern oder fuhren dreißig Meilen auf
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