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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel
Autoren: Claudie Gallay
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Entscheidung an, er lehnt den Streik, der ihm da aufgezwungen wird, rundweg ab.
    Odon trinkt seinen Kaffee aus. Es verspricht ein Tag voller Spannungen zu werden.
    Die nächsten Tage.
    Die Nächte.
    Der Himmel über dem Kahn ist bereits blau, es herrscht eine drückende Hitze, die bis Ende der Woche und vermutlich den ganzen Juli anhalten wird.

A ls Odon zu den Platanen blickt, sieht er das Mädchen.
    In den Wochen des Festivals stranden sie dort zu Dutzenden, junge Leute ohne Schlafplatz, die von Abenteuern träumen und letzten Endes auf den Straßen übernachten.
    Die dort ist fast noch ein Kind, höchstens zwanzig, zu kurzes Haar, eine zu weite Hose für ihren flachen Bauch.
    Er zeigt ihr seine Tasse.
    Sie nickt.
    Er geht in den Laderaum und kommt mit einem Becher zurück. Er läuft über den Steg.
    Sie trägt ein gestreiftes T-Shirt, eine Leinenhose und staubige Turnschuhe. Keine Socken in den Turnschuhen. In ihrer Lippe steckt ein Ring, ein Stift in der Augenbraue, drei Ohrringe zieren eines ihrer Ohren.
    Ein Rucksack liegt auf der Böschung. Darauf ein Fotoapparat.
    »Er ist stark«, sagt sie, während sie den ersten Schluck trinkt.
    Ihre Stimme ist leise, kaum hörbar, ein asthmatisches Atmen.
    »Kommst du von weit her?«, fragt er.
    »Aus dem Norden.«
    »Norden ist ein weiter Begriff …«
    »Versailles, der Wald.«
    Er lächelt, so nördlich ist das gar nicht.
    Sie sagt, sie sei per Anhalter gekommen, ein Paar hat sie über die Autobahn durch das Tal mitgenommen.
    Sie trinkt ihren Kaffee aus, ihre Hände umklammern den Becher.
    Am Ufer rollt ein Skarabäus eine Sandkugel, Amseln kratzen im Staub nach Nahrung.
    »Ist es dort?«, fragt sie und deutet auf die Stadt.
    »Ja, innerhalb der Stadtmauern.«
    Sie ist Flüsse nicht gewohnt. Dieser hier ist breit, eine dicke, bedrohliche Flut.
    »Hast du Hunger?«
    Er kehrt auf den Kahn zurück, nimmt alles, was er findet, Feigen, Butter, Brot, und legt es auf einen Teller. Als er wieder herauskommt, ist das Mädchen nicht mehr da. Der Becher steht einsam auf der Mauer. Ein dunkler Bodensatz trübt das milchige Weiß im Innern.

S ie betritt die Stadt durch die große Porte de l’Oulle. Die Stadtmauer. Die Place Crillon. Überall Plakate, an den Gittern der Fenster hängend, auf Mauern oder Kartons geklebt. Schon auf der Brücke hatte sie welche gesehen.
    Sie hebt den Blick, schaut sich um.
    Der Himmel ist ausgetrocknet.
    Das Licht grell.
    Sie geht ziellos durch die Straßen, die wie Kulissen wirken. Rue Joseph-Vernet, Rue Saint-Agricol. Weitere Plakate, ein Mann mit Hut, eine Tänzerin auf einem Seil, das rote Herz eines Cupido …
    Manche sind mit einem Kreuz aus schwarzer Farbe durchgestrichen.
    Die Backstuben sind geöffnet, es riecht nach Brot, nach Croissant.
    Place de l’Horloge, die Cafés, die Stühle und Tische noch gesichert durch schwere Ketten.
    Sie hat Durst. Der Kaffee hat einen bitteren Geschmack in ihrem Mund hinterlassen. Sie sucht einen Springbrunnen. Es gibt keinen. Sie reibt die Zunge mit der Hand.
    Gleich darauf sieht sie das erste Plakat ihres Bruders. Ein zweites etwas weiter entfernt.
    Sie nähert sich. Mit Herzklopfen.
    Das Plakat ist auf Pappe geklebt.
    Nuit rouge , Rote Nacht, ein Stück von Paul Selliès, Inszenierung Odon Schnadel, im Théâtre du Chien-Fou.
    Um es zu sehen, hat sie Frankreich durchquert. Der Name ihres Bruders. Seine Worte hören. Sie macht ein Foto, ein zweites, Pauls Name. Sie sucht nach weiteren Plakaten, findet allein zehn auf dem großen Platz.
    Sie nimmt sonst nichts von der Stadt wahr, nur dies.
    Plötzlich liegt der Vorplatz vor ihr. Weit offen. Der Papstpalast, seine hohen Mauern. Die Sonne scheint hell auf die Türme. Ganz oben auf dem Glockenturm überragt eine Madonnenstatue die Stadt.
    Es ist ein riesiger Platz in einer geschlossenen Stadt.
    Sie geht weiter.
    Streikende liegen auf den Stufen, die zu den Toren des Palastes hinaufführen. Es sind etwa zwanzig. Erschöpfte Körper, Arme, Nacken. Wie Erschossene liegen sie da. Hinter ihnen ein Spruchband, rote Buchstaben. Wir sind tot.

O don geht in die Altstadt hinauf. Die schmalen Gassen des Quartier de la Balance. Theatergruppen reisen ab. Er begegnet Festivalbesuchern, die ein wenig verloren herumirren. Auf dem Vorplatz erklären die freien Theaterleute, warum sie nicht spielen. Andere, warum sie spielen. Es herrscht allgemeine Verwirrung.
    Odon bleibt vor dem Festivalplakat stehen, drei verstellbare Schraubenschlüssel vor dem Hintergrund eines
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