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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel
Autoren: Claudie Gallay
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schreiben mit einer Person, die am Ende stirbt, indem sie Digitalisblätter isst. Die Schönheit mit dem Tod verbinden, das wollte er, diese infernalische Verbindung.
    »Acht Gramm dieser Blätter reichen aus. Auf der Bühne würde ich die Blüten verwenden, das ist poetischer, aber tödlich sind die Blätter«, hatte er gesagt.
    »Es war eine wunderbare Szene … Julie, ihre Gesten, die Purpurfarbe der Digitalis in ihren Fingern, als sie die Blütenblätter zum Mund führte, da habe ich begriffen …«
    Sie lässt ihren Mund in der Wölbung seiner Hand.
    »Du hast meine Sünde gesühnt …«
    Odon denkt an all die Jahre, in denen er sich schuldig gefühlt hat, so sehr, dass er eine Geschichte schreiben musste, um zu versuchen, den Namen Selliès zu retten. Er fasste den Entschluss, ihn der Vergessenheit zu entreißen und ihm zu geben, was ihm zustand.
    Und das war Nuit rouge .
    Er seufzt an ihrem Nacken.
    Er umarmt sie fest.
    Sagt nichts mehr.
    Die Jogar schließt die Augen.

E ine Reihe von Theatergruppen ist abgereist. Weitere werden folgen, bis nur noch eine da sein wird. In der Stadt wird wieder Ruhe herrschen. Sie haben Maries Leichnam nach Versailles überführt. Zwei unendlich traurige Tage sind vergangen. Julie und die Jungs haben das Theater geputzt, die Bühnenrequisiten weggestellt und die Garderoben aufgeräumt.
    Odon hat Maries Mutter angerufen, mit ihr gesprochen. Sie sagte, Maries Asche sei zusammen mit der ihres Bruders beerdigt worden, unter einem Baum, der fünfzig Jahre brauchen wird, um zu wachsen.
    Odon nimmt sich vor, diesen Baum eines Tages zu besuchen.
    Er öffnet die Bullaugen auf der Flussseite.
    Autos fahren über den Boulevard. Die Erde strahlt die Wärme aus, die sich während des Tages aufgestaut hat.
    Das Festival geht zu Ende, aber nicht der Sommer. Es wird noch wochenlang heiß sein.
    Er nimmt sein Handy. Geht an Deck. Die Nummer ist gespeichert.
    »Wo bist du?«, fragt er.
    »Im Zug.«
    »Was hast du an?«
    »Ein schwarzes Kleid.«
    Sie wiederholt: »Ein schwarzes Kleid in einem leeren Abteil.«
    Er hört sie lächeln.
    Sie sagt, ich lerne Verlaine d’ardoise et de pluie .
    Er setzt sich an den Tisch auf dem Vorschiff. Sie erzählt von dem Text, den sie lernen muss, entfernt sich, immer weiter. Sie steckt bereits in den Plänen für Herbst und Winter.
    Er hört ihr zu.
    Er ist glücklich für sie.
    »Ich werde für dich schreiben.«
    Sie antwortet nicht.
    Es gibt einen Augenblick, in dem keiner ein Wort sagt. Sie lässt diesen Augenblick verstreichen und beendet das Gespräch.
    Er schlägt ein Heft auf, beugt sich vor.
    Er nimmt seine Tasse.
    Ein Stück Himmel spiegelt sich in der schwarzen Oberfläche seines Kaffees.
    Er hat bereits angefangen, ein paar hingeworfene Notizen, der Anfang einer Geschichte.

I sabelle holt ihre Puderdose heraus. Sie trägt etwas Puder auf ihre Stirn und die Nasenflügel auf. Ihre Augen sind rot.
    Odon betrachtet ihr Gesicht.
    Sie hat über Maries Tod geweint.
    Sie sprechen davon, gemeinsam, lange.
    »Ein Leben ist dermaßen kurz …«
    Traurig starrt sie den Tisch an.
    Odon erwähnt mit keinem Wort die Digitalis.
    Er sagt, er wolle Maries Sachen mitnehmen, um sie ihrer Mutter zu bringen.
    »Ich muss es tun …«
    Isabelle lässt ihn allein gehen. Sie schließt die Puderdose. Streichelt ihre Hände einer alten Frau, die immer trockener werden. Die Reihenfolge stimmt nicht, sie hätte gehen müssen.
    Odon bleibt einen Augenblick lang reglos auf der Schwelle stehen. Dann tritt er in Maries Zimmer.
    Er sammelt ihre Kleidungsstücke ein und legt sie in eine Tüte. Ein T-Shirt. Der Geruch im Stoff.
    Die Gedankenurne … Er öffnet sie, schließt sie wieder. Stellt sie in den Schrank.
    Er geht zum Fenster, betrachtet die aufgeklebten Zettel, Dutzende. Und auch die, die an der Wand kleben.
    Die Fotos, das von Isabelle auf dem Rand ihres Himmelbetts. Die anderen. Er löst sie ab. Behält sie. Das Manuskript von Anamorphose behält er ebenfalls.
    Er findet das Heft von Selliès, legt es mit allem Übrigen in die Tüte.
    Marie hatte nicht viel.
    Er hebt die Matratze hoch, zieht sie in den Flur, legt sie zu den anderen im Zimmer ganz hinten.
    Er geht zurück.
    Das Zimmer ist leer. Nur die weißen Zettel am Fenster und an der Wand erinnern an Marie.
    Er lässt sie da.
    Er nimmt die Tüte und schließt den Fensterladen.
    Ein Stück Papier ist zwischen Matratze und Wand gerutscht. Er bückt sich, hält es für eine Botschaft, die aus der Gedankenurne gefallen
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