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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel
Autoren: Claudie Gallay
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Digitalis aus?«, fragt sie.
    »Ein Stiel mit Blütentrauben, die wie hängende Glöckchen aussehen. Man kann die Finger hineinstecken. Sie sind wunderschön, aber sehr giftig, vor allem die Blätter.«
    Das Mädchen nimmt ihren Rucksack. Bei uns gab es keine Digitalis, denkt sie.
    Sie geht wieder zu Odon.
    Ihr Bruder benutzte den Computer nicht. Sie tippte seine Texte, die er ihr diktierte. Er behauptete, seine Finger seien zu steif für die Tastatur.
    »Wann haben Sie Nuit rouge bekommen?«
    »Ich weiß nicht … Vor fünf Jahren.«
    »Mit der Post?«
    »Mit der Post, ja.«
    Das Mädchen zieht die Augenbrauen hoch. Ihr Bruder ist seit fünf Jahren tot.
    »Er hat Ihnen auch noch einen anderen Text geschickt.«
    Sie erinnert sich an ihn. Sie hatte ihn zusammen mit ihm ein paar Wochen vor seinem Tod getippt. Er handelte von den Abenteuern eines Mannes, der die Welt verstehen will, indem er sich selbst beim Leben zusieht. Am Ende spricht er mit sich, als wäre er ein anderer, und wird verrückt. Die Geschichte hatte ihr gefallen.
    »Sie hatte einen merkwürdigen Titel … Sagt Ihnen das nichts?«
    »Nein.«
    Sie nickt.
    Paul hatte die Éditions Schnadel wegen Avignon gewählt, und weil das Theater Le Chien-Fou hieß. Er hatte gesagt, der Süden bringe ihm Glück.
    Die Tür steht immer noch offen, sie schaukelt ein wenig im Wind.
    Das Mädchen deutet auf ihren Rucksack aus Armeestoff, der nicht viel enthält.
    »Ich dachte mir, Sie würden mich vielleicht nicht auf der Straße schlafen lassen.«
    Odon steckt die Hände in die Hosentaschen und zieht ein Päckchen Zigaretten heraus.
    »Das solltest du dir aus dem Kopf schlagen«, sagt er.
    Es klingt ziemlich brutal. Sie errötet.
    »Bist du wirklich die Schwester von Selliès?«, fragt er.
    Sie nickt.
    »Tut mir leid für deinen Bruder.«
    Sie blickt auf das Plakat.
    »Er hätte sich sehr gefreut … Ein kleines, billiges Hotel, wo kann ich das finden?«
    Er zögert. Schließlich zieht er einen Flyer aus seiner Tasche und kritzelt eine Adresse auf die Rückseite.
    »Geh in die Rue de la Croix, zu Isabelle, sie ist eine Freundin. Sag ihr, dass ich dich schicke.«
    Sie nimmt das Papier, behält es in der Hand und geht den Mittelgang zurück.
    »Wie heißt du?«, fragt er, als sie die Tür erreicht.
    Sie dreht sich nicht um, neigt nur den Kopf ein wenig, im Profil.
    »Marie.«
    Sie geht hinaus. Die Sonne brennt auf den Platz, man könnte meinen, das Licht verschluckt sie.
    »Jetzt können wir nur noch hoffen, dass Leute kommen«, sagt Damien und hebt den großen Vorhang hoch.
    »Nur noch …«
    »Wir kennen unseren Text.«
    »Wenn du glaubst, das reicht.«
    »Es wird schon klappen«, sagt Julie.
    Sie hängen den Vorhang an den Haken der Stange auf, doch es gelingt ihnen nicht, ihn zwischen den übrigen Kulissenteilen hochzuziehen.

E ine Generalversammlung wird in aller Eile auf dem Vorplatz des Papstpalastes organisiert. Julie klebt das Plakat von Nuit rouge zu den anderen und streicht es mit einem Kreuz durch. In und Off, der Kampf ist für einen weiteren Abend der gleiche.
    Theaterdirektoren nehmen das Mikro und prangern zum x-ten Mal finanzielle Kürzungen an, die sie zwingen, die Löhne zu senken, die Verträge neu zu verhandeln und die Künstler auszubeuten.
    Odon hält sich abseits. Seit Jahren dümpelt das Festival schon vor sich hin. Zu viele Amateure. Zu viele Aufführungen, manche vulgär, seicht, reinste Fernsehunterhaltung. Das alles begeistert ihn nicht mehr.
    Julie prangert einen Staat an, der sich zunehmend aus der Verantwortung stiehlt. Wütend verlässt sie die Gruppe. Geht zu ihrem Vater.
    »Sie wollen Amateure und Profis gegeneinander ausspielen. Uns spalten, um besser regieren zu können …«
    Wütende Pfiffe ertönen aus der Menge.
    Theaterleute klettern auf die Barrikaden unter den Blicken der Polizisten, die nicht eingreifen.
    Daneben gibt es Theatergruppen, die beschließen zu spielen, um zu retten, was zu retten ist, von einem Festival, das langsam erstickt.

M arie kommt in die Rue de la Croix. Sie überprüft die Nummer auf dem Flyer. Eine breite Fassade, vielleicht ein altes Palais, mit Pflanzen, die von den Balkonen herabhängen, fast tot, manche so vertrocknet, dass sie seit langem vergessen wirken. Die Fenster im oberen Stock sind geöffnet, weiße Vorhänge flattern im Wind wie große Segel oder ein Brautschleier.
    Hinter einem der Fenster ein Plüschbär und eine Puppe mit Porzellangesicht. Man kann sie von der Straße aus erkennen. Der
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