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Die englische Episode

Die englische Episode

Titel: Die englische Episode
Autoren: Petra Oelker
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AN DER KÜSTE VON SUSSEX
    Als der Tag zu Ende ging, roch die Luft über den Klippen nach Frühling, doch in der Nacht duckte sich das Land wieder unter der Kälte des Februars. Der Himmel über dem Meer war klar, bis die von Sternen glitzernde schwarze Unendlichkeit mit den ersten Stunden des neuen Tages im Dunst verschwand und die Welt klein, eng und tonlos wurde. Der Nebel dämpfte jedes Geräusch: das Schmatzen der Wellen, die sich sanft an den Klippen brachen, den stumpfen Klang der Hufe auf dem Strand, selbst die Stimmen der Reiter.
    Die beiden Dragoner, die am Strand Patrouille ritten, froren in dieser kalten Dunkelheit. Die klebrig-nasse Luft legte sich eisig auf ihre Gesichter und durchdrang den festen Wollstoff ihrer Winteruniformen. Vor allem aber gab der Nebel ihnen das Gefühl, allein in Feindesland zu sein, obwohl das nächste Haus der Zoll- und Küstenwache, Unterkunft für fünfzehn Männer und anderthalb Dutzend Pferde, kaum mehr als zwei Meilen entfernt in den Hügeln stand.
    «Es ist unsinnig, in einer solchen Nacht Patrouille zu reiten», sagte der Jüngere der beiden, «wirklich unsinnig.» Seine Stimme klang lauter, als er für gewöhnlich sprach,und er fuhr gedämpfter fort: «Heute Nacht ist hier niemand. In so einer Nebelsuppe sieht kein Mensch etwas. Wir nicht und die nicht. Oder glaubst du, die können hexen?»
    «Nicht wirklich hexen», antwortete der zweite Reiter bedächtig und wischte sich mit dem Handrücken die Nässe aus den Augenbrauen, «obwohl es manchmal so scheint. Die kennen hier jeden Stein und jeden Ginsterbusch, die machen ihre Geschäfte auch in Nächten, in denen selbst der Teufel zu Hause bleibt.» Er verhielt sein Pferd und neigte lauschend den Kopf zur Seite. «Nichts», sagte er. «Trotzdem wäre ich kaum überrascht, wenn da draußen auf dem Wasser, keine viertel Meile vor unserer Nase, was vor sich geht.»
    Beide starrten in den Nebel hinaus, in dem sich das Meer versteckte, bis sie die Kälte wieder vorwärts trieb. Am Ende der Bucht saßen sie ab, führten ihre Pferde behutsam tastend zum Küstenpfad hinauf und ritten weiter nach Westen.
    Sie waren kaum hinter dem nächsten Hügel verschwunden, als emsiges, doch nahezu geräuschloses Leben in der Bucht erwachte. Aus den Höhlen der Steilwand, hinter Buschwerk und Felsbrocken huschten hundert, wenn nicht gar hundertfünfzig dunkle Schatten hervor. Stämmige kleine Packtiere standen plötzlich am Strand, die Hufe dick mit Sackleinen umwickelt, die Mäuler gebunden. Zwei flache Boote lösten sich aus dem Uferschilf des Flüsschens, das hier ins Meer mündete, glitten hinaus in die Bucht und waren schon im Nebel verschwunden.
    Zwei Stunden später, es war nicht mehr lange bis Sonnenaufgang und mit der aufkommenden sanften Brisebegann sich der Nebel in dicke Schwaden zu teilen, kehrten die beiden Reiter zurück. Die auflaufende Flut hatte den Strand schon schmal gemacht.
    «Ich hab’s dir gesagt», murmelte der Jüngere mit von der Kälte steifen Wangen, «in so einer Nacht liegen alle in ihren warmen Betten. Außer uns. Wahrscheinlich haben wir sie überhaupt endgültig vergrault. Seit sie wissen, dass sie gehenkt oder zumindest deportiert werden, wenn wir sie schnappen   …»
    Der Ältere lachte leise und freudlos. Der junge Dragoner aus London musste noch viel lernen. Er blickte auf den Sand hinab, doch über dem Boden war der Nebel noch so dicht, dass er kaum die Hufe seines Pferdes erkennen konnte. Auch nach Sonnenaufgang würde die Suche vergeblich bleiben. Dann hatte die Flut alle Spuren verwischt, auch ihre eigenen.
    Zwei Meilen weiter im Land erreichten schwer bepackte Männer, Frauen und Kinder ihr Ziel. Auf dem versteckten Pfad durch die Downs war die kleine Karawane immer kleiner geworden. Bei diesem Busch, bei jenem Stein – immer wieder waren einige der menschlichen Lastträger still verschwunden, als habe sie die dunstige Dunkelheit verschluckt. Die mit den Maultieren hatten eine gute Meile zurück bei der mächtigen, vor Jahren von einem Blitz gespaltenen Esche den Weg zum Dorf eingeschlagen.
    Die Männer mit den Booten würden in den nächsten dunklen Nächten zurückkehren, zwei-, vielleicht auch dreimal, und wieder in die Bucht hinausrudern, bis auch die letzte der geteerten Tonnen, die mit dicken Steinen verbunden kurz unter der Oberfläche des Wassers dümpelten, geborgen und in Sicherheit gebracht waren.
    Doch jetzt waren auch die Boote längst verschwunden, eines langsamer als gewöhnlich, denn
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