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Die Liebe ist eine Insel

Die Liebe ist eine Insel

Titel: Die Liebe ist eine Insel
Autoren: Claudie Gallay
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Kitt, der das Holz zusammenhält, hat sich aufgelöst. Alle Fensterscheiben sind staubig, nur diese eine nicht.
    Es gibt keine Klingel, keinen Namen.
    Marie drückt die Tür auf.
    Eine breite Treppe führt nach oben. Es ist feucht, dunkel. Zwei Männer in Latzhosen kommen mit einem langen Wollteppich auf den Schultern herunter.
    Marie geht die Stufen hinauf.
    Eine alte Frau beugt sich im oberen Stockwerk über das Geländer. Sie trägt ein türkisblaues Charleston-Kleid, eine lange Perlenkette und ein schwarzes Stirnband mit Goldpailletten.
    Aus der Nähe sieht sie aus wie eine Tempelwächterin.
    »Sind Sie Isabelle?«, fragt Marie.
    »Und du, wer bist du?«
    »Marie.«
    »Die Unbefleckte? Die, von der alle sprechen?«
    Marie lässt ihren Rucksack in ihre Hand gleiten.
    »Ich weiß nicht, wo ich schlafen soll, Odon Schnadel schickt mich.«
    »Na ja, wenn Odon Schnadel dich schickt …«
    Sie geht in die Wohnung. Marie folgt ihr. Der erste Raum ist groß und sehr hell, mit Holzparkett, einem Regal voller Bücher und einem alten Kamin.
    Auf dem Parkett sind unter dem Staub noch die Umrisse des Teppichs zu erkennen. Und an den Wänden hellere Stellen, wo einmal Bilder hingen.
    Fünf große Fenster gehen auf die leere Straße.
    Marie lässt ihren Rucksack in der Diele stehen.
    Isabelle geht in die Küche, setzt sich an den Tisch, holt ein Heft hervor und blättert die Seiten um.
    »Fünf Minuten, und ich gehöre dir.«
    In ihrer Zigarettenspitze steckt eine Davidoff.
    Der Tisch ist übersät mit Papieren und Flaschen. In der Mitte eine mit Satyren verzierte Vase, in der Pfauenfedern stecken. Die Zeitung vom Tag.
    Durch das Fenster dringt die heiße Luft herein.
    Ein kleiner Bleistift ist mit einer Schlaufe aus blauem Stoff an dem Heft befestigt.
    Isabelle schreibt:
    »12. Juli: ein Foto von Agnès Varda, ein Teppich, eine Holzmarionette.«
    Ihre Hände sind die Hände einer alten Frau, mit Pigmentflecken und geschwollenen Adern. Am Mittelfinger trägt sie einen großen quadratischen Amethysten.
    »Auf dem Foto war Gérard Philipe im Kostüm von Perdican zu sehen.«
    Ein mit Lamé durchwirkter Schal rutscht hinter ihr über die Lehne des Stuhls herunter.
    Sie sagt: »Ich schreibe es auf, sonst vergesse ich es.«
    Die Aschenbecher sind voll, es riecht nach kalter Asche. In einer Ecke der Küche ein Karton, der von leeren Flaschen überquillt, Bierdosen, zerknülltes Papier, ein Pizzakarton.
    Isabelle hört auf zu schreiben und schließt das Heft.
    Sie saß in einem Café in Paris, als ein Mann hereinkam und ihr mitteilte, Gérard Philipe sei gestorben. Das war im November 1959, es regnete, eiskalte Tropfen, und die Leute flanierten, es war alles dermaßen traurig.
    Sie legt das Heft an seinen Platz zurück. Bei der Bewegung schlagen die weißen Perlen ihrer Kette gegen das Holz des Tisches. Sie sehen aus wie Perlmutt.
    Sie erzählt, dass Gérard Philipe eines Abends Le Cid mit einem Polsternagel im Absatz gespielt habe.
    »Er hat nichts gesagt, aber hinterher hat er sich zwischen die Kulissen gesetzt, seinen Schuh ausgezogen und laut geschimpft.«
    Marie hört zu. Sie steht da, an den Türrahmen gelehnt.
    Isabelle nimmt ihre Brille ab und schiebt sie ins Etui. Sie steht auf und stützt die Hände auf den Tisch.
    »Du willst ein Bett, stimmt’s?«
    Sie deutet auf den Flur.
    »Da sind Matratzen, Laken, Zimmer, manche sind bewohnt, andere nicht, such dir eins aus.«
    Sie betrachtet Maries dünne Arme. Die durchscheinende Haut, die gepiercte Lippe, den Stift in der Augenbraue.
    »Willst du was essen?«
    Marie schüttelt den Kopf.

D er Flur, der zu den Zimmern führt, ist verstopft mit Rucksäcken, Kleidungsstücken, Koffern, ein paar Hüten und Wintermänteln, die an Nägeln hängen.
    Ein junger Mann rezitiert einen Text vor einem offenen Fenster. Ein Mädchen sitzt auf dem Bett und hört Musik aus einem Discman.
    Marie sucht sich ein leeres Zimmer. Ein Heizkörper aus Gusseisen, ein Stapel Decken. Das Fenster geht auf die Straße. Sie legt eine Matratze an die Wand und stellt ihren Rucksack darauf.
    Der Fotoapparat.
    Eine dicke Tapete bedeckt die Wand. Kleine weiße Pferdchen.
    Sie setzt sich auf den Rand der Matratze. Es ist heiß.
    Langsam fährt sie mit dem Finger über den Ring in ihrer Lippe, ein Piercing, das sie sich in Barbès hat machen lassen, auf der Innenseite ist Pauls Name eingraviert. Der Stift in der Augenbraue ist ebenfalls aus Barbès. Ansonsten eine Reihe kleiner Ringe im Ohrläppchen. Einer für jeden
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