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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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sie von den Strahlen geschädigt worden waren?
    »Erbschäden«, sagte mein Vater.
    Von den Neugeborenen in und um Schewenborn ist kaum eines normal. Fast alle, die überhaupt lebend zur Welt kamen, sind verkrüppelt oder blind, taubstumm oder blöde. Sie zerstören alle Hoffnung. Denn so sehr sich die Schewenborner auch anstrengen zu überleben, werden sie doch aussterben. Das ist nur eine Frage der Zeit.
    Mein Vater hat sich nach dem Bombentag sehr verändert. Er ist schweigsam geworden. Einmal, kurz nachdem er mit dem Unterrichten angefangen hatte, warf ihm ein Junge, der ein vernarbtes Gesicht hatte - inzwischen ist er elend an der Strahlenkrankheit gestorben -, die Kreide ins Gesicht und schrie: »Sie Mörder, Sie!«
    Die anderen Kinder hatten ihn entsetzt angestarrt, aber mein Vater hatte sofort begriffen, was der Junge gemeint hat. Seitdem schläft er nicht mehr gut. Er stöhnt oft in der Nacht. Manchmal schaut er mich so an, als warte er darauf, daß ich ihn auch »Mörder« nenne.
    Aber was ändert es, wenn ich ihm vorwerfe, daß er und fast alle Menschen seiner Generation in den letzten Jahren vor dem Bombentag untätig und seelenruhig zugeschaut haben, wie die Vernichtung der Menschheit vorbereitet wurde? Daß er immer die dumme Ausrede zur Hand hatte: »Was können wir daran ändern?« und nicht müde wurde, darauf hinzuweisen, daß solche Waffen gerade durch ihre Entsetzlichkeit den Frieden garantierten? Daß ihm - wie den meisten anderen Erwachsenen Bequemlichkeit und Wohlstand über alles gingen? Daß er - und sie alle - wohl die Gefahr wachsen sahen, aber sie nicht sehen wollten ?
    Einmal fragte ihn ein Mädchen aus seiner Klasse: »Haben denn Sie irgend etwas für den Frieden getan?« Da hat er nur den Kopf geschüttelt. So konnte ich wenigstens seine Ehrlichkeit achten.
    Aber je älter ich werde und je länger ich über diese ganze Sache nachdenke, um so mehr gebe ich Andreas recht: Verfluchte Eltern, aber auch: Verfluchte Großeltern! Sie hätten wissen müssen, was da heraufbeschworen wurde, denn sie hatten erfahren, was Krieg ist - wenn ihr Krieg auch ein fast harmloser im Vergleich zu unserem Bombentag gewesen ist.
    Jetzt haben wir vierzig Kinder in unserer Schule. Bis zum Ende des Jahres werden es noch siebenunddreißig sein, denn wieder ist bei dreien die Strahlenkrankheit ausgebrochen: bei Kernmeyers Uli, der der Klügste aus meiner Klasse und das letzte lebende von vier Geschwistern ist, bei Berti aus dem ersten Schuljahr, den jemand am Bombentag in den Fulda-Auen gefunden und nach Schewenborn mitgebracht hatte und der seinen Familiennamen und seine Eltern nicht kennt - und bei Bärbel, unserer kleinen Bärbel, die wir von Frau Kramer übernahmen. Zwei Jahre war sie nun bei uns. Wir haben uns sehr an sie gewöhnt. Es wird ein harter Abschied werden.
    Bald werden wir die eine Klasse schließen.
    »Du übernimmst dann die, die noch übrigbleiben«, sagte mein Vater gestern zu mir. Und als ich ihn erstaunt ansah, fügte er hinzu: » Dich werden sie nicht Mörder nennen.«
    Ja, ich werde die Klasse übernehmen. Ich unterrichte gern. Ich bin zwar noch viel zu jung, um Lehrer zu sein, und ich habe das Unterrichten auch nie gelernt. Aber die Kinder werden mich annehmen, weil ich vor dem Bombentag noch nicht erwachsen war.
    Es gibt so viel Wichtigeres als Lesen, Schreiben und Rechnen, was ich ihnen unbedingt beibringen will: Sie sollen ein Leben ohne Plündern, Stehlen, Töten haben wollen. Sie sollen einander wieder achten lernen und helfen, wo Hilfe nötig ist. Sie sollen miteinander sprechen lernen und sollen für ihre Schwierigkeiten gemeinsam Lösungen finden, ohne gleich aufeinander einzuschlagen. Sie sollen sich füreinander verantwortlich fühlen. Sie sollen einander liebhaben. Ihre Welt soll eine friedliche Welt werden - auch wenn sie nur von kurzer Dauer sein wird.
    Denn diese Kinder sind die letzten Kinder von Schewenborn.

Nachwor t
    Schewenborn ist kein erfundener Ort. Es gibt ihn: Schlitz, mein Wohnort, ein malerisches Städtchen in Osthessen zwischen Rhön- und Vogelsbergwäldern.
    Kurz nachdem ich mein Schewenborn-Buch abgeschlossen hatte, wurden wir Schlitzer aus unserer heilen Welt aufgeschreckt. Der Eisenberg, ein Waldgelände unmittelbar neben Schlitz, sollte ein riesiger amerikanischer Truppenübungsplatz werden.
    Wir wehrten uns, nutzten alle friedlichen Mittel, die uns zu Gebote standen. Angehörige aller Gesellschaftsschichten und Parteien beteiligten sich an den Aktionen,
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