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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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sein.
    Ich stand mit Tasche und Koffer in der Dämmerung und weinte vor Verzweiflung. Dann fiel mir das Schloß ein. Ich lief in den Schloßpark. Da stand der kahle Klotz, Grau in Grau, einsam zwischen den hohen Bäumen. Vor der Freitreppe stellte ich das Gepäck ab und lief durch die Räume. Ihre Böden waren noch dreckverkrustet vom Sommer her. Durch die großen, offenen Fensterlöcher hatte es hereingeschneit. Der Sturm heulte durch die leeren Hallen und das breite Treppenhaus mit den kostbaren Holzintarsien. Nein, hier konnten wir die Mutter nicht hinlegen. Ebensogut hätten wir sie draußen im Park in den Schnee betten können.
    Vorsichtig tastete ich mich die Treppe hinunter in den Keller. Hier war es stockfinster, aber es zog kaum, und Schnee war auch noch nicht eingedrungen. Hier war es spürbar wärmer als draußen und oben. Ich tastete mich in die Ecke, wo ich damals die drei toten Kinder aneinandergekuschelt hatte lehnen sehen. Sie waren nicht mehr da. Ich holte das Gepäck von der Freitreppe und trug es in den Keller. Dann lief ich meinen Eltern entgegen.

12
    Das Kind wurde in der Nacht geboren. Es kam zur Welt, als ich in unserer Gasse herumlief, verzweifelt bemüht, die Frau wiederzufinden, die mir die Glut angeboten hatte. Aber ich konnte mich nicht an das Haus erinnern, und inzwischen war es Nacht geworden. Niemand öffnete. Jeder hatte Angst vor Fremden, die aus lauter Hunger vor nichts mehr zurückschreckten, auch nicht vor einem Mord.
    Als ich mich in den dunklen Keller zurückgetastet hatte, war das Kleine schon abgenabelt.
    »Es ist ein Mädchen, Roland«, hörte ich sie sagen. »Es soll Jessica Marta heißen, nicht wahr, Klaus?«
    »Ganz, wie du willst, Inge«, antwortete mein Vater.
    Er schickte mich noch einmal weg.
    »Ich habe der Mutter die Matratze aus dem Kinderwagen untergelegt«, sagte er. »Die ist jetzt voll Blut, und wir haben keine Unterlage mehr für das Kind. Lauf und schau, ob du in den Scheunen einen Armvoll Heu findest.«
    Ich lief und suchte im Dunkeln. In den Schloßscheunen kannte ich mich aus. Heu fand ich nicht, denn Judith und die Mutter hatten alles Heu aus den Scheunen für die Kinder im Schloß gebraucht. Aber ich fand eine große Schachtel, in der es raschelte, wenn man sie schüttelte. Ich fühlte hinein und griff in Styropor-Chips. Ich fand, daß sie ein einigermaßen weiches und trockenes Lager für ein Neugeborenes abgeben konnten, und trug die Schachtel in den Keller.
    Aber Mutter wollte nicht, daß wir das Kind in die Chips legten.
    »Da erfriert's«, flüsterte sie matt. »Ihr müßt es sehr warm  halten, wenn es überleben soll.«
    So gab mir der Vater das Baby in den Arm. Ungewaschen, wie es war, hatte er es in Großmutters Daunenkissen gewickelt. »Wärm du es jetzt«, sagte er. »Ich löse dich dann ab.« Ich knöpfte meine Jacke und mein Hemd auf und drückte  das leichte Bündel an meine nackte Brust. Eingehüllt in Jens' Decke und Vaters warmgefütterte Wanderjacke, lehnte ich mich an die Wand und zog meine Knie so hoch, wie ich konnte. So hielt ich mein kleines Schwesterchen auf dem Schoß und wagte mich kaum zu rühren. Das Kissen wärmte auch mich. Ich hatte Mühe wachzubleiben. Aber das Kind lag ja in der Mulde zwischen Brust und Beinen, es konnte nicht so leicht herausrutschen. Sorgsam achtete ich darauf, daß es nicht erstickte.
    Jedesmal, wenn es quäkte oder sich bewegte, wurde mir warm vor Glück. Ich war voll Zärtlichkeit, ich wollte alles tun, damit es überlebte. Für dieses winzige, hilflose Kind, das in ein solches Elend hineingeboren worden war und nie die gute alte Zeit kennengelernt hatte, wollte ich betteln und stehlen und plündern, wenn es sein mußte!
    Ich stellte mir sein Gesicht wie das von Kerstin vor.
    Vom langen Sitzen und von der Kälte wurde ich ganz steif. Ich hörte den Vater bei der Mutter hantieren, hörte die Mutter ab und zu stöhnen, hörte sie leise miteinander reden. Dann wurden sie still. Nur noch ihr Atem war zu hören. Der Vater war wohl nach all der Aufregung und Anstrengung neben der Mutter eingeschlafen, und auch sie ruhte sich erschöpft aus. Da fiel ich in einen unruhigen Halbschlaf.
    Als das Kind sich wieder einmal bewegte und ich aufschreckte, fiel durch die Kellerluken vor den breiten Lichtschächten schon Dämmerhelle. Das erste, was ich außer den Luken ausmachen konnte, war der weiße Atem, den ich aushauchte. Danach erkannte ich Andreas' Inschrift:
    VERFLUCHTE ELTERN!
    Sie füllte die halbe Wand in
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