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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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erlegt. Jeder Überlebende hat inzwischen gelernt: Wer nicht für Vorräte sorgt, riskiert spätestens im nächsten Winter den Hungertod.
    Rings um die Stadt gibt es nun viel mehr Land, als die wenigen Schewenborner bebauen können. Noch kann man die Ränder der früheren Flurstücke, der alten Gärten und Felder erkennen, noch stehen manche Koppelzäune. Aber von Jahr zu Jahr verblassen die Spuren der Vorbombenzeit.
    Auch das Geld ist verschwunden. Manchmal sieht man noch Kinder mit Münzen und Scheinen spielen. Aber Geld ist wertlos geworden. Wer dringend etwas braucht, muß es sich gegen etwas anderes eintauschen. Tausch ist alles. Man tauscht sogar Arbeit gegen Arbeit. Erfindergabe wird geschätzt. Wer einen Beruf hatte, mit dem sich jetzt nichts mehr anfangen läßt, besinnt sich auf seine Begabungen und Hobbys. Und schon bauen ein paar findige Schewenborner an einer neuen Wasserleitung. Es liegen ja noch genug Rohre in den Trümmerhaufen.
    Seit dem letzten Hungerwinter wird nicht mehr geplündert oder erschlagen. Es ist wieder eine bescheidene Ordnung eingekehrt. Tote, die man beim Holzholen oder Bucheckern-sammeln oder irgendwo auf den Wesen findet, bekommen ein Grab, wie es sich gehört, auch wenn man nicht weiß, wer sie waren, und wenn nicht mehr viel von ihnen übrig ist.
    Schewenborn hat sogar wieder einen Bürgermeister. Wenn etwas beschlossen werden muß, versammelt er die Überlebenden zwischen den Trümmerbergen auf dem ehemaligen Marktplatz. Dort steht kaum mehr ein Haus. Aber das alte Kopfsteinpflaster ist unverwüstlich.
    Wir Schewenborner sehen jetzt aus, wie früher Arme aus der Dritten Welt ausgesehen haben. Manche von uns tragen noch Kleider von früher: verwaschenes, ausgefranstes, geflicktes Zeug. Manche Frauen haben aus alten Lumpen Neues zurechtgeschneidert Was wir dann anziehen werden, wenn alle alten Gewebe zerschlissen sind, wissen wir noch nicht. Aber darüber zerbrechen wir uns nicht den Kopf. Vorerst gibt es noch Wichtigeres zu tun.
    Unsere Schuhe haben wir aus alten Autoreifen und Holzbrettchen gebastelt. Wir sind nicht mehr so sauber, wie wir es früher gewesen sind. Es gibt ja kein funktionierendes Badezimmer, keine Wasserleitung, keine Wasserspülung mehr, keine Friseure und keine Kosmetik. Es gibt nicht einmal mehr Seife. Wir riechen nach Schweiß. Wir riechen nach Arbeit.
    Unser Leben ist eine einzige Schufterei, wenn wir durch den nächsten Winter kommen wollen. Wir müssen ja alles mit der Hand machen: Wasserholen und Wäschewaschen, Pflanzen und Ernten, Nähen und Trümmerwegräumen und Bauen. Wir haben keine Maschinen mehr.
    Wir müssen das Tageslicht ausnutzen. Sobald die Sonne aufgeht, ist jeder, der noch in Schewenborn lebt, an der Arbeit. Auch schon Vier- und Fünfjährige. Alle müssen mithelfen, damit niemand verhungern oder erfrieren muß. Da bleibt kaum mehr Zeit zum Spielen oder für Spaziergänge. Und die Angst sitzt uns im Nacken: Gibt es einen harten Winter? Werden wir die Kartoffeln vor Schaden bewahren können? Werden wir gesund bleiben? Werden wir unser Leben retten können? Jede lächerliche Blinddarmentzündung, jede Blutvergiftung, jede Gelbsucht kann uns töten, denn der letzte Arzt ist tot, und wir haben keine Medikamente mehr.
    Aber jeder versteckt seine Ängste, jeder verdrängt das Wissen um die Gefahr, in der er schwebt. Täte er das nicht, müßte er verrückt werden. Und so wandelt sich unser gefährdetes Dasein doch allmählich in einen Alltag mit seinen Gewohnheiten.
    Seit einem reichlichen Jahr haben wir sogar wieder eine Schule. Mein Vater hat sie eingerichtet. Zwei Klassen: eine für die Kleinen, eine für die Großen. Für ihn ist Schewenborn ohne Schule unvorstellbar. Ich glaube, ein Menschenfresser schockiert ihn weniger als ein Analphabet. Als ich noch jünger war, habe ich auch so gedacht wie er. Vor dem Bombentag war ja die Lese-Schreib-Rechenschule eine Selbstverständlichkeit. Aber inzwischen bin ich der Meinung, daß so eine Schule nicht mehr zu unserem jetzigen Dasein paßt.
    Anfangs waren es neunundvierzig Schüler von sechs bis vierzehn Jahren. Die Kleinen betreue ich, die Großen unterrichtet mein Vater. Er liest, schreibt, rechnet mit ihnen, spricht aber nie mit ihnen über die Bombe und über das Vorher und Nachher. Kürzlich hat er ihnen von den alten Griechen erzählt Das war aber auch alles. Dagegen macht er aus ihnen hervorragende Schnellrechner und Rechtschreiber. Er kann nicht verleugnen, daß er früher Buchhalter gewesen
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