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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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großen schrägen Blockbuchstaben. Etwas war also noch von ihm zurückgeblieben.
    Ich nickte wieder über dem Kind ein. Als ich das nächste Mal wach wurde, war es schon heller geworden. Ich erkannte Vater und Mutter. Sie lagen eng aneinandergeschmiegt auf dem Estrich unter den Schlafsäcken. Die Mutter hatte Großvaters dicken Pullover an. Ringsherum lagen Tücher und Windeln verstreut, und alles war voller Blut. Eine Blutlache stand auf dem Estrich. Ich konnte nicht erkennen, ob sie gefroren war. Die Mutter lag so, daß ich ihr Gesicht sehen konnte. Sie schien fest zu schlafen. Ihr Gesicht schimmerte bläulichweiß.
    Mir fiel Großvaters Gartenhaus ein. Dort hätten wir hingehen können! Dort gab es sogar einen alten Kanonenofen. Daß es mir nicht früher eingefallen war! Aber wir hätten die Mutter im Kinderwagen wohl kaum im Dunkeln den steilen Hang hinaufgekriegt. Nun, es war ja auch so gegangen. Jetzt, wo alles vorüber war, konnten wir uns immer noch im Gartenhaus einquartieren, sobald die Mutter wieder gehen konnte.
    Als es so hell wurde, daß ich Großmutters Monogramm im Kissenbezug erkennen konnte, wurde ich so neugierig, daß ich meine Jacke, die das Köpfchen bedeckte, etwas beiseiteschob und die Kissenzipfel auseinanderzog, um das winzige Gesicht sehen zu können.
    Ich erstarrte. Ich konnte nicht schreien. Ich saß ganz steif.
    Meine kleine Schwester Jessica Marta hatte keine Augen. Dort, wo sie hätten sein müssen, war nichts als Haut, gewöhnliche Haut. Nur eine Nase war da, und ein Mund, der an meiner Brust herumsuchte und saugen wollte.
    Mich lähmte ein solches Grauen, daß ich nicht einmal imstande war, das Kissen wieder zusammenzuraffen, als sich das Kind bloßstrampelte. Da lag es, nackt und blutig, und ich sah, daß es nur Stummelarme besaß.
    »Vati«, flüsterte ich, »Vati -«
    Er fuhr hoch und blinzelte mich mit rotumränderten Augen an. Auch er atmete weißen Hauch aus. »Schau doch«, flüsterte ich. »Ja«, sagte er, »ich weiß. Sie ist verblutet. Sie hat's gewußt. Sie ist ganz ruhig gestorben. Es war ein guter Tod. Sie hat  auch noch an dich gedacht.« Aber ich dachte nur an meine neue Schwester. Ich glaubte, er spräche von ihr. »Sie ist doch nicht tot«, rief ich, »sie hat sich die ganze Zeit bewegt -«
    Er kroch zu mir hin und beugte sich über meine Knie.
    »O nein, nein«, stöhnte er.
    Ich aber schaute jetzt hinüber zur Mutter. Langsam begriff ich. Da fing ich an zu schreien. Ich schrie und schrie, bis ich schweißgebadet das Bewußtsein verlor.
    Als ich wieder zu mir kam, hörte ich das Kind schreien. Ich hörte seine Stimme aus der Styropor-Schachtel. Es hatte eine kräftige Stimme. Der Vater trug die Schachtel gerade zur Treppe hinüber.
    »Wo trägst du's hin?« fragte ich voller Angst.
    »Schlaf nur«, sagte er.
    Ich merkte, daß er meinem Blick auswich.
    »Das kannst du doch nicht machen«, flüsterte ich.
    Ihm liefen Tränen über die Wangen.
    »Was ist wohl barmherziger - so oder so?« fragte er.
    Ich taumelte zu ihm und streichelte die Schachtel.
    »Tu ihr nicht weh, hörst du?« schluchzte ich.
    Der Vater schüttelte den Kopf.
    »Bleib hier«, sagte er. »Bleib bei der Mutter.«
    Er ließ mich nur kurz allein, aber mir erschien es eine Ewigkeit. Als ich endlich seine Schritte auf der Treppe hörte, ging ich ihm entgegen. Er hielt die Schachtel noch immer in den Händen. Aber jetzt schrie und raschelte nichts mehr darin.
    Noch am selben Tag zogen wir hinauf in Großvaters Gartenhaus. Die Mutter legten wir wieder in den Kinderwagen und deckten sie gut zu. Niemand begegnete uns, niemand fragte uns. Mit Mühe und Not schafften wir den Wagen den eisglatten Hang hinauf. Als Tauwetter kam, begruben wir beide, Mutter und Jessica Marta, unter dem Süßkirschenbaum.

13
    Seitdem sind vier Jahre vergangen. Ich bin jetzt siebzehn. Zwei Jahre lang haben wir in Großvaters Gartenhaus gewohnt, dann zogen wir wieder in das Haus der Großeltern hinunter. Denn im zweiten Hungerwinter starb fast die Hälfte von denen, die den ersten noch überlebt hatten, auch Frau Kramer und der alte Mann. Nur das Kind, das bei ihnen gewesen war, blieb am Leben. Wir nahmen es zu uns.
    Es gibt jetzt genug Häuser in Schewenborn, die noch leidlich in Ordnung sind und trotzdem leerstehen. Von allen Schewenbornern und den vielen Obdachlosen, die hier untergekommen waren, leben nur noch etwa vierhundert. Nein, die übrigen sind nicht alle umgekommen. Vor zwei Jahren ging einmal das Gerücht um, in den
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