Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
Vom Netzwerk:
Schneesturm hinein. Der Schnee wirbelte in den Kinderwagen. Die Mutter fror. Der Vater wickelte Mutters Beine, die zwischen den Stangen des Schiebegriffs aus dem Wagen hingen, in Jens' Decke, schützte ihren Kopf gegen den Schneefall, indem er ihr meinen leeren Rucksack über den Kopf zog, und deckte ihren Leib mit der Babydecke zu.
    »Nein«, jammerte sie, »nicht die Decke. Womit sollen wir das Neue zudecken, wenn sie feucht wird?«
    Da zog der Vater Großvaters dicken Rollkragenpullover aus, den er unter seiner Wanderjacke trug, und breitete ihn über sie. Ich wußte, daß er nun entsetzlich fror.
    Er versuchte, in Wietig unterzukommen. Er schlug mit den Fäusten gegen die Türen, gegen die zugestopften Fenster.
    »Eine Hochschwangere!« brüllte er. »Sie ist schon in den Wehen! Wo ist denn eure ganze Christlichkeit?«
    Nichts rührte sich. Der Vater heulte vor Wut. Wir schoben weiter. Zum Glück ging es vom Wietiger Wald aus nur noch bergab. Er ließ mich vorlaufen.
    »Sag der Frau Kramer, sie soll Wasser heißmachen«, rief er mir nach, »und die Küche heizen und eine Matratze in die Küche legen! Laß den Koffer dort und komm mir wieder entgegen, so schnell du kannst. Du mußt mir mit dem Wagen über die Trümmer helfen!«
    Ich rannte. Ich war so lange nicht mehr gerannt. Die feuchten Kleider, die ich wochenlang nicht mehr hatte wechseln können, rieben mich wund. Der Koffer schlug mir bei jedem Schritt gegen das Bein. Ich kam nach Schewenborn hinein. Es wurde schon Abend. Die Stadt oder das, was von ihr noch übrig war, lag wie tot da. Nur durch ein paar Ritzen schimmerte trübes Licht aus Herdlöchern. Ich kletterte über die Schuttberge, stellte im Vorbeilaufen fest, daß das Hospital bis auf ein paar verkohlte Mauerreste nicht mehr da war und Kernmeyers Eckhaus einen ausgebrannten Dachstuhl hatte, stürzte in unsere Gasse, zum Haus meiner Großeltern, begriff mit ungeheurer Erleichterung, daß es noch stand und unbeschadet war und donnerte mit den Fäusten gegen die Tür.
    Ich hörte schlurfende Schritte, die Tür öffnete sich einen Spalt. Ich erkannte Frau Kramers mißtrauisches Gesicht.
    »Hau ab«, sagte sie, »hier gibt's nichts.«
    »Aber ich bin's doch«, rief ich, »Roland! Erkennen Sie mich nicht? Wir sind zurückgekommen!«
    »Was - ihr?« fragte sie entgeistert. Ich merkte, wie entsetzt sie war. »Ich dachte, ihr seid längst -«
    Sie sprach nicht weiter.
    »Wer ist da?« hörte ich eine Männerstimme drinnen im Haus knurren.
    »Stell dir vor, Karl, Bennewitzens sind wieder da!« rief sie. Sie behielt die Klinke in der Hand. Sie ließ mich nicht einmal in den Flur. Ein Mann kam gebückt aus der Küche angeschlurft. Ich kannte ihn nicht. Er hatte Großvaters karierte Weste an.
    »Kommt gar nicht in Frage«, sagte er, als er mich sah. »Ihr seid weggezogen, basta. Ihr habt ja geglaubt, anderswo ginge es euch besser.«
    Ich wandte mich an Frau Kramer, die hinter ihm stand: »Mein Vater hat doch mit Ihnen ausgemacht, daß wir bald wiederkommen! Sie sollten nur so lange -«
    »Davon weiß ich nichts«, sagte Frau Kramer und schob das kleine Mädchen zurück, das neugierig hinter ihr hervorschaute. »An solche Abmachungen kann ich mich nicht erinnern. Er hat mir nur das Haus übergeben und gesagt, von nun an könnte ich darin wohnen.«
    »Das ist nicht wahr!« schrie ich. »Ich war doch selber dabei! Und überhaupt: Das ist Großvaters Haus. Er ist tot. Also gehört es jetzt uns!«
    »Ach, du lieber Gott«, sagte der alte Mann, »hör dir den Burschen an, jetzt kommt er mit Recht und Gesetz. Diese Zeiten sind vorbei. Habt ihr das noch nicht begriffen? Jeder nimmt sich, was er braucht, und verteidigt es. Eher zünden wir dieses Haus an, als daß wir's wieder hergeben, das kannst du deinen Eltern ausrichten. Denn für uns wär's der Tod. Mach die Tür zu, Marie, es schneit herein.«
    Ich schob den Fuß zwischen Tür und Schwelle.
    »Meine Mutter bekommt aber ein Kind!« schrie ich.
    »Nimm den Fuß weg!« kreischte Frau Kramer.
    Da nahm ich den Fuß heraus. Die Tür fiel ins Schloß.
    Ich klopfte noch an ein paar Türen in der Nachbarschaft. Die meisten gingen gar nicht erst auf. Andere schlossen sich wieder, noch bevor ich meinen Namen gesagt hatte. Nur eine alte Frau nuschelte durch den Türspalt: »Wir hausen selber schon zu zwölft in einem Raum. Aber wenn ihr Glut braucht Glut könnt ihr haben.« Ich hatte diese Frau noch nie gesehen. Sie mußte eine von den Obdachlosen aus der Fuldaer Gegend
Vom Netzwerk:

Weitere Kostenlose Bücher