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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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Alpen sei das Leben noch wie früher, da sei nichts verstrahlt und nichts verseucht. Darauf machten sich über einhundertfünfzig Schewenborner auf und zogen nach Süden. Keiner ist bisher zurückgekommen. Vielleicht stimmt dieses Gerücht, vielleicht auch nicht. Mein Vater und ich wollten nicht wissen, ob daran was Wahres ist. Schon einmal sind wir ja von hier fortgezogen und kamen geschlagen zurück. Wir bleiben hier. In Schewenborn ist man längst nicht am schlechtesten dran. Das bestätigen viele, die immer noch ab und zu hier durchziehen. »Hier rührt sich noch Leben«, sagen sie.
    Diese vier Jahre waren eine Kette von Ängsten: Angst vor der Kälte, dem Hunger, den Krankheiten, den Insektenplagen. Angst vor dem Tod.
    Die meisten Schewenborner, die den Bombentag überlebt hatten, starben während der beiden ersten Winter, die der Katastrophe folgten. Vor allem den zweiten Winter überlebte nur eine kleine Zahl. Es war ein sehr kalter Winter. Die Menschen erfroren und verhungerten. Wer im Sommer nicht genug Holz aus den Wäldern geholt hatte, wer keine warme Kleidung mehr besaß, wer krank wurde und niemanden hatte, der ihm sein Feuer Tag und Nacht hütete, kam vor Kälte um. Wer sich keine Eßvorräte angelegt hatte, starb an Hunger.
    Aber es war sehr schwierig gewesen, mit Eßvorräten für den Winter vorzusorgen. Denn im Jahr nach dem Bombentag wuchs fast nichts. Die meisten Felder blieben unbestellt. Auch wer noch in der Lage war, ein paar Kartoffeln zu pflanzen, ein paar Hände voll Korn zu säen, erntete nichts: Die Erde war verstrahlt. Was im Frühling noch keimte, kümmerte vor sich hin. Statt mit frischem Grün überzog sich die Landschaft mit einem kränklichen Schwefelgelb. Die Fichten nadelten, viele Laubbäume schlugen nicht mehr aus. Nur das zäheste Unkraut hielt stand.
    In diesem ersten Sommer nach der Bombe und dem darauffolgenden Winter aßen die Leute Gras und Rinde, sie sammelten Wurzeln und würgten Raupen und Würmer herunter. Sie zogen über Land in der Hoffnung, irgendwo etwas Eßbares zu finden. Die letzten Katzen, die letzten Hunde wurden aufgegessen. Man aß sogar Ratten. Denen hat die Bombe, wie es scheint, nichts anhaben können. Man entwickelte raffinierte Fangmethoden, um sie lebendig unters Messer zu kriegen. Man brüstete sich gegenseitig mit der Anzahl der erlegten Ratten. Ja, den Ratten verdankten die Schewenborner ihr Leben - und den großen Konservenbeständen einer unterirdisch angelegten Militärbasis in der Nähe von Fulda, die durch Zufall von ein paar jungen Schewenbornern entdeckt, gewaltsam geöffnet und durchstöbert worden war.
    Man hatte vergeblich versucht, diesen Fund geheimzuhalten.
    Ganz Schewenborn schlug sich um die Büchsen. Die letzten Reste davon werden noch jetzt als begehrte Tauschware gehandelt. In den schlimmsten Zeiten brachten sich manche Leute um ihretwillen gegenseitig um.
    Aber im letzten Winter ist in Schewenborn so gut wie niemand mehr vor Hunger umgekommen. Langsam, ganz langsam beginnt sich die Natur von dem ungeheuren Eingriff zu erholen. Robustes wuchert wieder. Im letzten Frühjahr wurde es um die Stadt wieder grün. Auch nach Fulda zu sprießt Gras aus der Asche. Aber es ist kein gewöhnliches Gras, das dort wächst. Nur das allerzäheste Zeug bringt das fertig. Aber was es auch sei - Hauptsache, das entsetzliche Aschengrau verschwindet.
    Die Überlebenden haben sich umgestellt. Sie haben sich auf das karge Leben der Nachbombenzeit eingestellt. Sie warten nicht mehr auf eine Rettung von anderswoher, auf ein Wunder, auf eine Erlösung. Sie haben ihre Rettung selber in die Hand genommen.
    Gärten werden wieder bestellt. Vielen Gemüsearten begegnet man darin nicht mehr. Sie haben die Strahlenverseuchung nicht überstanden. Aber Kartoffeln gibt es noch. Überall rings um Schewenborn stößt man jetzt auf Kartoffelbeete und kleine Kartoffelfelder. Während der warmen Jahreszeit dreht sich das Leben der Schewenborner fast nur um ihre Kartoffeln, denn durch den Vogeltod haben die Insekten überhandgenommen. Wir haben schlimme Insektenplagen durchgemacht. Und die Wildschweine, von denen offenbar eine große Anzahl, versteckt in Talfalten und geschützt durch dichtes Gestrüpp, den Bombentag unbeschadet überstanden hat, haben sich unglaublich vermehrt. In ganzen Rudeln fallen sie in die Felder ein. Wenn wir nur Munition hätten!
    Aber die Schewenborner werden findig. In diesem Frühjahr und Sommer haben sie mit Fallen und Gruben vier Wildschweine
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