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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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freuen sich so auf die Kinder. Sie wären enttäuscht, wenn wir sie auf die nächste oder übernächste Woche vertrösten würden oder überhaupt nicht kämen.«
    Also fuhren wir los, nachdem wir unseren Wellensittich und unseren Pudel bei Frau Kellermann abgegeben hatten. Frau Kellermann wohnte über uns. Schon immer, seit ich mich erinnern kann, versorgte sie unsere Tiere, wenn wir verreisten, und goß unsere Blumen. Dafür übernahmen wir ihre Katze und gossen ihre Blumen, wenn sie verreiste. Daß wir dieses Mal weder Frau Kellermann noch unseren Wellensittich noch unseren Pudel noch unsere Wohnung, ja nicht einmal unser Frankfurter Stadtviertel Bonames wiedersehen würden, ahnte keiner von uns.
    Während der Fahrt waren wir in bester Stimmung, wir fünf. Das waren meine ältere Schwester Judith, meine jüngere Schwester Kerstin, meine Eltern und ich. Damals war ich zwölf Jahre alt, fast dreizehn. Judith war drei Jahre älter als ich. Kerstin war erst vier. Wir freuten uns sehr auf die vier Wochen in Schewenborn. Dort erwartete uns der Großvater mit seiner Hobby-Werkstatt und seinem Garten am Fleyenhang. Dort erwartete uns die Großmutter mit Eingemachtem, das im Keller in einem großen Regal für uns bereitstand, und mit ihrer Spieluhrensammlung, die sie uns bei jedem Besuch vorführte. Meine Eltern brachten ihr diesmal auch wieder eine Spieluhr mit. Die sah wie eine Schmuckschatulle aus, und wenn man an ihrer kleinen Kurbel drehte, klimperte sie O sole mio . Mein Vater zog die Großmutter wegen dieses Ticks oft auf, aber wir Kinder fanden ihre Sammlung einfach klasse. Jeder von uns hatte eine Lieblingsmelodie.
    In Schewenborn gab es noch viel mehr, worauf wir uns freuten: die Winkel und Treppchen und Tore zwischen den alten Fachwerkhäusern, wo es sich so gut Versteck spielen ließ. Den dicken alten Turm mit dem Umgang, von dem aus man die ganze kleine Stadt überblicken konnte. Das Heimatmuseum in der Burg, durch das uns der Großvater manchmal führte und alles so interessant und witzig erklärte, daß es uns nie langweilig wurde. Das Schwimmbad an der Schewe mit warmem Wasser auch an kalten Tagen. Meine Mutter freute sich auf den Schloßpark, in dem sie abends mit der Großmutter gern spazieren ging, rund um das Schloß zwischen den riesigen Kastanien. Mein Vater freute sich auf die großen Wälder, denn er war ein begeisterter Wanderer, und auf den Maldorfer See, an dem er oft mit dem Großvater angelte.
    Wir fuhren auf der Kasseler Autobahn bis Alsfeld, dann bogen wir in den Vogelsberg ab. Es war ein Julitag, wie man ihn sich nur wünschen kann. Mein Vater fing an zu singen, und wir sangen mit. Meine Mutter übernahm die zweite Stimme. Als wir durch Lanthen fuhren, war noch alles wie immer.
    Aber im Wald zwischen Lanthen und Wietig, gerade in der Kurve am Kaldener Feld, blitzte es plötzlich so grell auf, daß wir die Augen zupressen mußten. Meine Mutter stieß einen Schrei aus, und mein Vater trat so fest auf die Bremse, daß die Reifen quietschten. Der Wagen geriet ins Schleudern und blieb quer zur Fahrbahn stehen. Wir wurden in den Gurten hin-und hergerissen.
    Sobald der Wagen stand, sahen wir am Himmel, hinter den Wipfeln, ein blendendes Licht, weiß und schrecklich, wie das Licht eines riesigen Schweißbrenners oder eines Blitzes, der nicht vergeht. Ich schaute nur einen Augenblick hinein. Trotzdem war ich danach eine ganze Weile wie blind. Starke Hitze drang durch das offene Fenster herein.
    »Was ist das?« hörte ich meine Mutter schreien. Sie hatte die Hände vors Gesicht geschlagen. Der Vater hatte auch den Arm vor den Augen. Judith, die hinter der Mutter saß und zusammen mit ihr die schlimmste Hitze abbekam, ächzte und ließ sich seitwärts auf Kerstin und mich fallen.
    »Fenster zu!« brüllte der Vater.
    Aber noch ehe jemand zu den Kurbeln greifen konnte, erhob sich ein rasender Sturm. Vor uns bogen sich die Bäume, ihre Wipfel neigten sich tief. Wir hörten Holz krachen und splittern. Unser Wagen wurde gepackt und gerüttelt. Wir klammerten uns aneinander, denn wir dachten, wir würden in den Graben geschoben. Judith hatte ihre Finger in mein Knie gekrallt. Ihr Haar peitschte mir ins Gesicht. Kerstin schrie so schrill, daß wir kaum das Krachen der Bäume hörten. Hinter uns stürzte eine Fichte quer über die Straße. Unser Wagen bebte.
    Der Sturm ließ ebenso schnell nach, wie er gekommen war. Zugleich wurde es finster wie vor einem besonders schlimmen Gewitter. Hinter dem Wald, in der
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