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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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Behandlung. Es ist ein Notfall!«
    Mein Vater zögerte, aber meine Mutter sagte: »Wir sind selber zu einem Notfall unterwegs, und wir haben drei Kinder bei uns.« Und uns zischte sie zu: »Los, lauft weiter. Wenn wir uns hier einspannen lassen, können wir Oma und Opa vergessen.«
    »Aber ich könnte doch -«, sagte Judith.
    »Das wäre ja noch schöner!« rief die Mutter empört. »Wo sollten wir dich dann suchen, wenn wir wieder abfahren? Wir bleiben auf jeden Fall zusammen!«
    Wir alle - außer Kerstin - waren gewohnt, der Mutter zu folgen. Und so liefen wir weiter. Der Mann aus Wietig schimpfte hinter uns her.

2
    Ich lief am schnellsten und erreichte als erster den Waldrand. Als ich im Tal die kleine Stadt Schewenborn um ihren Burghügel liegen sah, erschien sie mir im ersten Augenblick wie immer, nur daß ein brauner Dunst über den Dächern lag. Das war Staub. Dann sah ich Rauchschwaden zwischen den Häusern hervorquellen.
    Judith kam hinter mir. Sie sagte: »Der Kirchturm ist weg.« Da sah ich's auch: Der Kirchturm fehlte. Nur der dicke alte Burgturm war noch da.
    Als die Mutter uns erreichte, warf sie nur einen kurzen Blick auf die Stadt und schrie dem Vater zu, der noch im Wald war: »Schewenborn brennt! Mein Gott, die Eltern!«
    Judith und ich wollten weiterlaufen, aber die Mutter rief: »Wir bleiben zusammen. Daß ihr mir ja nicht ins Feuer rennt!«
    Der Weg hinunter bis zu den ersten Häusern kam uns entsetzlich weit vor. Wir waren diesen Weg ja sonst immer nur mit dem Auto gefahren. Wahrend wir liefen, veränderte sich die Stadt vor unseren Augen: Es qualmte an immer mehr Stellen, Flammen schlugen aus den Dächern, wanderten weiter, vermehrten sich, und schließlich verschwand der ganze Stadthügel unter einer dichten, dunklen Rauchwolke. Aber die war nichts gegen das Gewölk, das hinter dem Kaltenberg am Himmel in Richtung Fulda stand.
    Wir konnten jetzt auch erkennen, daß viele Häuser keine Dächer mehr hatten. Wir schauten in die Dachböden hinein. Als Judith und ich einmal stehenblieben, um auf Vater und Mutter zu warten, sagte Judith: »Hörst du die Schreie, Roland?«
    Ja, ich hörte sie auch. Leute schrien in der Stadt. Es hörte sich schrecklich an. Aber es kam mir alles so unwirklich vor, so, als müßte ich nur aufwachen wollen, um Schewenborn wieder so sehen zu können, wie es immer war: eine malerische, gemütliche kleine Stadt mit vielen Blumen.
    Am ersten Haus, an dem wir vorüberkamen, war ein Teil von Dach und Giebelmauer weg. Unter den Trümmern lag ein halbzerdrückter Opel. Ein Hund jaulte, und eine Frauenstimme jammerte: »Bernhard, Bernhard -!« Dann liefen wir wieder an Feldern und Gärten vorüber. Es roch immer stärker nach Brand. Wir konnten jetzt auch schon das Feuer knacken und prasseln hören. Eine alte Frau kam uns auf der Straße entgegen. Sie trug einen Dackel auf ihren Armen. Sie hatte vergessen, ihre Bluse zuzuknöpfen.
    »Das ist der Weltuntergang! Das ist der Weltuntergang!« schrie sie immerzu.
    »Frau Pakulat«, rief meine Mutter, als die Frau uns erreicht hatte, »wissen Sie etwas über meine Eltern, die Felberts am Südtor?«
    Aber die Frau sah und hörte nichts. Mit irren Augen rannte sie weiter.
    Ich drehte mich zu meinen Eltern um und zeigte hinüber auf die Schule. Die sah nur noch aus wie ein Gerippe. Alle die großen Fenster waren ohne Scheiben.
    Dann kamen wir in die Innenstadt. Da sahen wir erst richtig, was geschehen war. Einige Fachwerkhäuser in der Webergasse waren zusammengestürzt Aus der Bäckerei Zechmeister quoll dicker Qualm. Überall lagen Blumenkästen, Dachziegel und ganze Fassaden auf der Fahrbahn. Die Tankstelle Stotz brannte lichterloh. Ein Mann suchte verzweifelt, mit seinem Auto aus der Gasse herauszukommen. Er hupte wie wild. Der Wagen schaukelte über den Schutt und blieb zwischen Balken hängen. Niemand kümmerte sich um ihn. Die Leute waren wie verrückt, sie versuchten zu retten, was ihnen gehörte. Viele schleppten Verletzte. Ich erkannte den Herrn Winterberg, der trug die Annemarie. Ihr Kopf war blutig, ihre Arme hingen schlaff herab. Mit der Annemarie hatten wir in den Ferien oft gespielt. Als wir unterhalb der Jugendherberge vorbeikamen, hörten wir darin die Kinder schreien. Und vor der Uhrmacherei Bendix lag eine Frau unter den Schaufensterscherben in einer Blutlache und rührte sich nicht. Judith lief ins Färbergäßchen hinein, weil sie nicht daran vorbeiwollte. Aber der Vater rief sie zurück. Da griff sie nach meiner
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