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Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók

Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók

Titel: Codex Regius - Indriðason, A: Codex Regius - Konungsbók
Autoren: Arnaldur Indriðason
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Der alte Bauer hörte durch das Toben des Unwetters hindurch ein dumpfes Geräusch und wusste, dass er auf den Sarg gestoßen war. Er stützte sich auf seinen Spaten und schaute zu dem Reisenden hoch, der am Rand des Grabes stand und ihn beobachtete. Der Mann schien plötzlich sehr erregt zu sein und befahl ihm, sich zu beeilen. Der Bauer setzte den Spaten wieder an und grub weiter – was schwierig war, denn das Regenwasser strömte unentwegt in das Grab, und er fand nur mit Mühe ein wenig Halt für seine Füße. Das Erdreich war steinig und schwer und das ausgehobene Loch eng. Der Bauer war nass bis auf die Haut, er fror und konnte kaum etwas sehen. Der Mann am Rand hielt eine kleine Laterne in der Hand, deren schwaches Licht unruhig über das Grab zuckte. Gegen Abend war eine dicke Wolkenwand näher gerückt, das Wetter hatte sich zusehends verschlechtert. Und jetzt stürmte es und goss wie aus Kübeln.
    »Siehst du etwas?«, rief der Mann ihm zu.
    »Noch nicht«, rief der Bauer zurück.
    Sie hatten ein Grab auf dem Friedhof entweiht, aber der Bauer zerbrach sich deswegen nicht den Kopf. Er würde das schon wieder in Ordnung bringen, und von der Existenz dieses Friedhofs wussten sowieso nur wenige. Er wurde zwar in alten Schriften erwähnt, aber es war schon lange niemand mehr darauf bestattet worden. Der Reisende schien sich aber auszukennen und auch einiges überdiejenigen zu wissen, die dort begraben lagen. Er weigerte sich jedoch, einen Grund dafür anzugeben, weshalb er das Grab öffnen wollte.
    Dies geschah zu Beginn des Winters, wo man mit schlimmen Unwettern rechnen musste. Der Mann war wenige Tage zuvor ganz allein zum Hof hinaufgeritten gekommen und hatte um eine Unterkunft gebeten. Außer seinem guten Reitpferd hatte er noch zwei Tragpferde dabei. Gleich am ersten Tag war er zum alten Friedhof gegangen und hatte sich darangemacht, ihn zu vermessen. Er schien eine Beschreibung dabeizuhaben, wie der Friedhof früher ausgesehen hatte, und schritt ihn von einer imaginären Ecke aus ab, änderte dann die Richtung, ging nach Norden und anschließend nach Westen; er legte sich sogar ins Gras und hielt das Ohr an den Boden, als wolle er den Verblichenen lauschen.
    Der Bauer selbst hatte keine Ahnung, wer da auf dem Friedhof ruhte. Er war vor vierzig Jahren mit seiner Frau, einer Magd und einem Knecht auf dieses abgeschiedene und schwer zu bewirtschaftende Anwesen gezogen. Seine Frau war vor fünfzehn Jahren gestorben. Kinder hatten sie keine gehabt, und das Gesinde war schon lange fort. Mit der Zeit war der Grund und Boden mit allen Rechten und Pflichten in ihren Besitz übergegangen. All das erzählte er dem Ankömmling. Der Hof hieß Hallsteinsstaðir und war der letzte bewohnte Hof auf dem Weg zum hochgelegenen Heideland; hierhin verschlug es nicht viele Gäste. Die Winter waren schneereich, und dann traute sich niemand hier hinauf. Der alte Mann schien Angst vor dem Winter zu haben. Er gab dem Ankömmling zu verstehen, dass er mit dem Gedanken spielte, diese Kötterwirtschaft dranzugeben und sich bei einem der Kinder seines Bruders aufs Altenteil zu setzen. Darüber sei bereits gesprochen worden. Er konnte die Schafe mitnehmen,um sich erkenntlich zu zeigen. Almosen wollte er nicht.
    Wenn sie abends nach dem Essen in der Wohnstube saßen, lauschte der Gast dem Bauern geduldig, wenn der seine Geschichten erzählte. Bevor er sich am ersten Abend hinlegte, fragte er den Bauern, ob er Bücher besäße. Die waren jedoch kaum der Rede wert, er hatte einen alten Psalter, sonst fast nichts. Als der Mann sich weiter erkundigte, ob er etwas von Büchern verstehe, zuckte der Bauer nur mit den Schultern. Das Essen, das er dem Mann vorsetzte, war wohl sehr armselig für einen solchen Gast; morgens gab es einen Brei aus angerührtem isländischem Quark mit Flechten, abends einen Eintopf mit kleinen Fleischbrocken darin. Bestimmt hatte er in den Städten dieser Welt Besseres gegessen, dieser Mann, der behauptete, in Köln gewesen zu sein, wo man wieder am Dom baute.
    Der Bauer fand, dass dieser Gast sich wie ein Mann von Welt gebärdete. Er war nach Art reicher Leute gekleidet, davon zeugten die silbernen Knöpfe und die Lederstiefel. Der Bauer wiederum war noch nie in seinem Leben gereist. Er hatte keine Ahnung, weshalb der alte Friedhof für jemanden, der von weit her kam, eine solche Bedeutung hatte. Er sah aus wie jeder andere vergessene Friedhof in Island, denn er bestand nur aus ein paar länglichen Grashügeln
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