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Feuermohn

Feuermohn

Titel: Feuermohn
Autoren: Astrid Martini
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Kapitel Eins
    Es gab Tage, an denen Anna den Wunsch verspürte, sich in ein anderes Leben beamen oder wenigstens fliegen zu können. Einem unbekannten Ziel entgegen – in den Sonnenuntergang, in die Nacht oder in den auftauenden Morgen hinein.
    Frei von jeglichem Ärger, von Missstimmungen. Frei von Kämpfen und Karrierefrust, um endlich anzukommen!
    Anzukommen und zu spüren, dass sich alles richtig anfühlte – ohne den Wunsch, jemals weiterfliegen zu wollen.
    Heute war einer dieser Tage.
    Sie saß im Büro hinter ihrem Schreibtisch, starrte aus dem Fenster und war wütend. So wütend, dass ihr das Blut in den Schläfen pochte, und ihre Finger unablässig auf die Tischplatte trommelten. Nicht einmal die brennende Duftkerze half, obwohl sie das Aroma sonst immer in hektischen Zeiten oder während drohender Krisen beruhigte.
    Anna war so wütend, dass sie sich nicht einmal mehr auf ihre Arbeit konzentrieren konnte - was ihr selten passierte. Der Tag hatte schon negativ begonnen. Sie hatte verschlafen, war auf dem Weg zur Arbeit in einen Stau geraten, und zur Krönung hatte ihr der Chefredakteur des Magazins, für das sie arbeitete, verkündet, dass die von ihr sorgfältig vorbereitete Reportage über „Karrierefrauen mit Doppelleben“ auf einen späteren Zeitpunkt verschoben würde. Auf einen Zeitpunkt, der unabsehbar war, denn andere Themen hatten seiner Ansicht nach in den nächsten Monaten Vorrang.
    Die gesamte Ladung an negativen Gefühlen, die in Anna brodelte, bekam der Stapel an Papieren zu spüren, der bis dahin noch fein säuberlich geordnet vor ihr auf dem Schreibtisch gelegen hatte und nun durch eine einzige Handbewegung in hohem Bogen quer durch den Raum flog.
    „Nova“ war ein elegantes, angesehenes und auflagenstarkes Magazin. Neben Geschichten über die Reichen, Berühmten und Schönen wurden Artikel von bekannten Psychologen und Journalisten gedruckt, ebenso Interviews mit Politikern und Stars. Die Fotografien waren erstklassig, die Textbeiträge gründlich recherchiert und prägnant geschrieben. ‚Nova‘ war in der hart konkurrierenden Zeitschriftenlandschaft eines der führenden Magazine.
    Seit fünf Jahren war Anna ein fester Bestandteil des Teams. Mit ihrem eigentümlichen Schreibstil faszinierte sie ihre Leser. Sie besaß ein besonderes Gefühl für Worte, gestaltete daraus Geschichten und Kurzstories voller Farbe und Klarheit, die den Leser von der ersten Zeile an fesselten. Besonderes Highlight war ihre wöchentliche Kolumne, in der sie mit Wortwitz und messerscharfem Verstand sogenannte Promis aufs Korn nahm. Die Verkaufszahlen stiegen, Fanpost aus dem ganzen Land erreichte sie.
    Anna liebte ihren Job – er war Berufung, füllte sie aus.
    Mit besonderer Hingabe widmete sie sich der aktuellen Reportage. Einer Hingabe, die fast schon an Besessenheit grenzte. In den letzten Tagen hatte sie insgesamt vielleicht 20 Stunden Schlaf gefunden. Ein überhäufter Schreibtisch, durchwachte Nächte und ausgelassene Mittagspausen waren ihre ständigen Begleiter. Wie unter Strom stehend hatte sie an dieser Reportage gearbeitet. Einem Thema, das sie dem Magazin vorschlagen hatte, als sie bei Recherchen im Internet zufällig auf das Online Tagebuch von Ella gestolpert war.
    Und nun das.
    Anna fluchte leise.
    Der Blick aus dem Fenster versöhnte sie für den Moment. Träge lagen die Häuser hinter Holzzäunen und Vorgärten. Die Alleen waren menschenleer, nur ein paar Autos glitten beinahe lautlos durch die Straßen. Diese Aussicht hatte stets etwas Beruhigendes für sie. Lullte sie behaglich ein, erdete sie, wenn sie in trüben Stimmungen versank. Vermittelte ihr ein „alles wird gut“ Gefühl, und das konnte sie brauchen.
    Ihr Blick kehrte zum Monitor zurück. Geheimnisvoll lockten dort Ellas Zeilen. Die Ärztin berichtete hier anonym über ihr Doppelleben.
    Ein angenehmes Kribbeln in der Magengegend vertrieb Annas Ärger, breitete sich von dort in jede Zelle ihres Körpers aus. Anna schloss für einen winzigen Moment die Augen.
    Dieses Tagebuch hatte sich schleichend und zunehmend zum Mittelpunkt ihres Denkens und Fühlens gemausert – einen Stellenwert erklommen, der ihr erst in diesem Moment bewusst wurde. Es berührte sie, und das nicht nur im journalistischen Sinne.
    Es weckte geheime Sehnsüchte. Durchblutete ihr Dasein, ihre Gedanken und ihre Gefühlswelt. Mit einem Schlag wurde ihr bewusst, dass hier der Kern für ihren sturen Wunsch lag, an dieser Reportage festzuhalten.
    Sie atmete tief
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