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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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Ferne, wälzten sich dunkle Wolken in unglaublicher Geschwindigkeit empor. Die Sonne verschwand. Windstille trat ein.
    »Was ist das, Klaus?« schrie meine Mutter noch einmal und klammerte sich an den Arm meines Vaters.
    »Fenster zu!« schrie er sie an und schüttelte sie ab, um kurbeln zu können. Da kurbelte sie auch auf ihrer Seite, wobei sie so verzweifelte Laute ausstieß, daß sie mir richtig unheimlich wurde. Die Kurbelei schien endlos, aber noch ehe das Fenster zu war, fegte ein neuer Sturm über uns hin, diesmal aus der entgegengesetzten Richtung, und noch einmal stöhnten und splitterten die Bäume, noch einmal zitterte unser Wagen. Danach beruhigte sich die Luft, und die Bäume richteten sich wieder auf. Draußen dröhnte es laut und schrecklich, aber anders als bei einem Gewitter.
    Der Vater drehte sich langsam nach uns um und sagte mit einer ganz fremden Stimme: »Gott sei Dank, ihr seid ja noch da.« Dann fuhr er Kerstin an, sie solle schweigen. Sie gehorchte, was sie sonst selten tat. Da wurde es still, draußen und drinnen, bis Judith ihren Kopf hob. Sie starrte mit verzerrtem Gesicht in die Dämmerung hinaus. An ihren Augen konnte ich erkennen, wie sehr sie sich fürchtete. Aber sie fing an zu lachen. Sie konnte nicht mehr aufhören zu lachen. Sie schrie vor Lachen. Nie werde ich dieses Gelächter vergessen. Sie lachte, bis meine Mutter sie anschrie: »Hör auf - sofort!«
    Da biß sie sich in die Hand. So machte sie's immer, wenn sie zu lachen aufhören sollte, aber nicht konnte. Das half. Sie wurde still.
    Aus verschiedenen Richtungen hörten wir Feuersirenen heulen.
    Wir sahen einander an. Meine Mutter war sehr bleich. Auch mein Vater sah verstört aus, aber das konnte man nicht so deutlich sehen, weil er einen Bart trug. Kerstin kletterte zwischen den beiden Vordersitzen durch auf Mutters Schoß und klammerte sich an sie wie ein Affenkind.
    »Fahr doch zur Seite!« herrschte die Mutter den Vater an. »Wir stehen ja noch immer quer auf der Straße! Wenn jetzt was angefahren käme!«
    Ich merkte, daß der Motor immer noch lief. Der Vater fuhr den Wagen zur Seite und blieb dort stehen.
    »War das eine Explosion?« fragte ich.
    Der Vater nickte.
    »Da muß aber ein ganzes Munitionslager in die Luft geflogen sein!« rief ich. Der Vater schüttelte den Kopf und sagte: »Kein Munitionslager.« »Glaubst du -?« fragte die Mutter den Vater. »Du meinst also -?« »Es sieht ganz so aus«, antwortete er. »Es kann nichts anderes gewesen sein.« »Aber das ist doch unmöglich«, jammerte sie, »das darf doch nicht sein.« »Wir müssen ganz schnell zurückfahren, weg von hier«,  sagte mein Vater, »bevor -«
    »Das geht nicht«, rief ich. »Der Baum!«
    Und meine Mutter fuhr auf: »Meine Eltern! Glaubst du, das war in Schewenborn?«
    »Nein. Weiter weg. Wahrscheinlich in Fulda.«
    »Dann laß uns schnell nach Schewenborn fahren und die Eltern holen.«
    »Wenn wir bis dorthin durchkommen«, sagte er und hielt sein Taschentuch aus dem Fenster. Der Wind wehte aus der Richtung, aus der wir gekommen waren.
    »Wenn er nicht dreht, könnten wir Glück haben«, sagte er.
    »Beeil dich«, rief die Mutter. »Fahr, so schnell du kannst!«
    Ich könnte nicht behaupten, daß ich damals nur Angst gehabt hätte, obwohl ich ahnte, daß meine Eltern eine Atombombenexplosion vermuteten. Ich fand die ganze Sache ungeheuer spannend. Ein Abenteuer! Daß Unheil in der Luft lag, spürte ich. Aber keinen Augenblick kam mir in den Sinn, daß es auch uns treffen könnte.
    Niemand kam uns entgegen. Es war, als wären wir ganz allein unterwegs. Nur einmal stand ein älteres Ehepaar am Straßenrand und winkte. Sie hatten Kniebundhosen an und trugen Rucksäcke. Die Frau hielt uns stolz einen riesengroßen Steinpilz entgegen.
    Sie wollten von uns wissen, was geschehen sei. Sie hatten mitten im dichten Hochwald nichts von dem entsetzlichen Licht gesehen, und den heißen Sturm hatten sie auch kaum gespürt. Nur das Dröhnen und die Sirenen hatten sie beunruhigt. Mein Vater bot ihnen an, sie bis zum nächsten Ort mitzunehmen, wenn sie uns Kinder auf den Schoß nehmen würden. Aber sie wollten lieber zu Fuß weiter.
    »Ausgerechnet heute hast du unser Fernglas im Hotel liegengelassen«, sagte die Frau ärgerlich zu ihrem Mann. »Jetzt ist es vielleicht verloren, wo es doch so teuer war.«
    »Was soll denn schon passiert sein, Else?« antwortete der Mann. »Gekracht hat's dort , und unser Hotel ist da . Morgen werden wir's in der Zeitung
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