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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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Hand, kniff die Augen zu und ließ sich von mir führen, obwohl sie älter war als ich.
    Wir wollten quer über den Marktplatz zum Südtor hinunterlaufen, aber wir kamen nicht durch. Rings um den Marktplatz brannte es lichterloh. Die Hitze zwang uns umzukehren. Wir versuchten, durch die Lanthener Straße vorwärtszukommen. Aber dort brannte das Eckhaus mit der Apotheke, und der Wind wehte die Funken auf die gegenüberliegende Straßenseite, wo es auch schon aus dem Dach qualmte. Da machten wir einen Umweg über die Fuldaer Straße. Dort brannten zwei Dächer, aber man kam noch daran vorbei. Vor der Tür eines der brennenden Häuser schrie eine Frau nach der Feuerwehr. Aber keiner, der vorüberhastete, kümmerte sich um ihr Geschrei. Ein Mann überholte uns, dem lief Blut übers Gesicht. Sein Haar war blutverklebt. Er trug ein kleines Kind, das auch ganz blutig war. Er lief ins Hospital, das an der Fuldaer Straße lag. Als wir dort vorüberkamen, drängten sich auf dem Innenhof und unter dem großen Torbogen viele Verletzte und Leute, die Verletzte führten oder trugen.
    Dann erreichten wir endlich das alte Fachwerkhaus unserer Großeltern. Wir atmeten auf: Es stand noch. Vor der Haustür lag ein Schuttberg aus Mörtelbrocken und Dachziegeln, und die Fensterscheiben waren auch alle kaputt. Aber das fanden wir inzwischen gar nicht mehr schlimm. Die Mutter beugte sich in ein offenes Fenster und rief: »Vati! Mutti!« Als sich nichts rührte, rannte sie um das Haus und schrie in die Küchenfenster hinein. Ich lief hinterher. Niemand antwortete. Aber im ersten Stock hörten wir Frau Kramer jammernd ihre Scherben zusammenfegen. Sie wohnte bei meinen Großeltern zur Miete. Da rief meine Mutter hinauf, ob sie wüßte, wo ihre Eltern seien.
    Frau Kramer beugte sich aus dem Fenster und schrie: »Ach Gott, Frau Bennewitz, die sind heute morgen nach Fulda gefahren! Sie haben Sie erst für den Nachmittag erwartet Sie wollten noch schnell ein Zelt für die Kinder kaufen. Bei Karstadt gibt's - gab's Zelte im Sonderangebot. Wenn ihnen nur nichts zugestoßen ist in diesem -!« Sie fand keinen Namen für das, was geschehen war.
    Die Mutter rannte wieder nach vorn zum Vater, dem Kerstin plärrend am Hosenbein hing. Er hatte auch eben von der Nachbarin, der alten Frau Malek, erfahren, daß unsere Großeltern in Fulda waren.
    »Sie wollten um elf wieder da sein«, sagte sie und schaute auf ihre Uhr. Aber die war stehengeblieben. Verstört starrte sie die Uhr an.
    »Es muß schon elf sein«, sagte sie. »Sie müssen jeden Augenblick zurück sein.«
    Meine Mutter sah meinen Vater an.
    »Wenn sie nun wirklich in Fulda gefallen ist -«, murmelte sie. »Ja«, antwortete er. »Ich muß hin«, sagte sie. »Bist du wahnsinnig?« schnauzte er sie an. »Wenn es wirklich eine war, dann ist doch dort nichts mehr - nur alles verseucht!«
    »Ich bin ihr einziges Kind, Klaus«, rief sie. »Ich kann sie doch nicht einfach so aufgeben! Ich komm schon zurück.«
    Schon lief sie in Richtung Schloßpark fort. Kerstin brüllte.
    »Bis Fulda sind's mehr als zwanzig Kilometer!« rief ihr der  Vater nach. »Wie willst du das zu Fuß schaffen?« »Ich halte was aus, das weißt du doch«, rief sie zurück. »Eher als du! Bleib bei den Kindern.«
    Und weg war sie. Der Vater rannte ein paar Schritte hinter ihr her, dann kehrte er um. Die Mutter war viel sportlicher als er. Beim Wandern hatte sie ihn auch meistens überrundet. Er hatte keine Chance, sie einzuholen.
    »Soll ich ihr nachrennen?« fragte ich.
    Aber das erlaubte er nicht. Er ließ uns durch das Küchenfenster ins Haus klettern und reichte uns Kerstin zu. Die heulte immer noch und wollte sich nicht trösten lassen.
    »Sie kommt ja bald wieder«, sagte ich. Judith warf mir einen schrägen Blick zu, der heißen sollte: Lüg doch nicht so! Ich zuckte mit den Schultern.
    In der Wohnung der Großeltern sah es aus wie immer - außer daß überall unter den Fensterbänken Scherben lagen und der Wind durch die Räume strich und die Gardinen bewegte. Auch ein paar Bilder waren von den Wänden gefallen, und eine Kaffeekanne war vom Küchenschrank gekippt.
    »Seht zu, daß ihr was zu essen findet«, sagte der Vater zu Judith und mir, als ihn die Maleks um Hilfe baten. Ihnen hatten die Dachziegel den Kaninchenstall zertrümmert. Neun Kaninchen hoppelten über die Schutthaufen.
    Judith hatte keinen Appetit, aber Kerstin und ich aßen. Im Schrank fanden wir ein Glas mit Holundergelee. Das war unser Lieblingsgelee. Zu
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