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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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ist. Aber wer braucht heute noch einen Buchhalter?
    Als Entgelt für unseren Unterricht geben uns die Eltern, was sie können: ein paar Kartoffeln, Sonnenblumenkerne, eine Konservenbüchse. Die Kinder von Eltern, die selbst nichts haben, holen uns Holz aus dem Wald.
    Mein Vater gibt sich wirklich viel Mühe. Er sucht selber die Trümmerberge und ehemaligen Müllplätze nach Schreibzeug und Papier für seine Schüler ab. Jeden Tag kontrolliert er die Bleistifte und Kugelschreiber, die er an die Kinder ausleiht, denn sie sind ja so kostbar. Keiner darf vergeudet werden, keiner verlorengehen. Die Vorräte aus der Vorbombenzeit müssen so sparsam wie möglich verbraucht werden, da sie unersetzbar sind. Was danach kommt? Wir wissen es nicht. Wir wissen nur, daß wir weder Papier noch Bleistifte herstellen können, von Kugelschreibern gar nicht zu reden.
    Wir unterrichten nicht in einem der früheren Schulgebäude. Die Grundschule brannte ein Jahr nach dem Bombentag aus, als ein Blitzschlag ein Großfeuer verursachte. Und die andere Schule, ein ehemaliger Neubau, bestand ja nur noch aus einem Mauergerippe, nachdem alle die großen Fensterscheiben zertrümmert worden waren.
    So haben wir zwei Räume im Erdgeschoß des Schlosses als Schule eingerichtet. Das Schloß liegt windgeschützt zwischen hohen Bäumen, es hat starke Mauern, und Dach und Decke sind noch dicht. Die Fenster haben wir halb zugemauert. Stürmt es zu sehr, schieben wir ein paar große alte Schränke vor die Fensterlöcher. In jedem Raum steht ein alter Kanonenofen. Aber in den kältesten Winterwochen lassen wir den Unterricht ausfallen.
    Beim Säubern der beiden Räume haben uns die Schewenborner geholfen. Sie waren froh, daß es wieder eine Schule für ihre Kinder geben sollte. Sie versuchten zusammen mit meinem Vater, Andreas' Buchstaben von den Wänden zu waschen, aber die gingen nicht ab, weder in den Räumen noch an den Außenmauern. Noch immer sind sie lesbar, auch im Keller. Aber dorthin gehe ich nicht gern. Da werden zu viele Erinnerungen wach.
    Lästig sind nur die Ratten. Das Schloß ist voll davon. Sie laufen den Schülern während des Unterrichts zwischen den Füßen durch. Ganz Schewenborn stöhnt unter der Rattenplage. Es gibt ja auch keine Katzen mehr. Wenn man durch die Straßen geht, sieht man die Ratten vorüberhuschen. Von Jahr zu Jahr vermehren sie sich, werden immer fetter, immer frecher. Nicht einmal der zweite Hungerwinter hat sie ausgelöscht, als die Schewenborner in ihrer Not Rattenfleisch zu essen begannen, um zu überleben. Da soll man nun unterrichten können, wenn die Schüler vor Angst die Beine hochziehen, seitdem kürzlich eine Siebenjährige in eine nackte Zehe gebissen wurde.
    Angst - immer wieder Angst. Als ob unsere Schüler nicht schon an genug Ängsten litten: Viele von ihnen sind keine gebürtigen Schewenborner. Sie wurden nach dem Bombentag aus der Fuldaer Umgebung hierher verschlagen. Viele sind Waisen. Die Jüngeren von ihnen können sich kaum mehr an ihre Eltern erinnern. Manche Kinder haben den Körper voller Narben oder gehen an Krücken. In meiner Klasse sind zwei Blinde. Mein Vater hat einen stummen Schüler, ihm fehlt ein Stück Zunge. Mehrere Kinder sind haarlos, andere leiden an Anfällen. Viele kommen müde in die Schule, weil sie nachts von Angstträumen geplagt werden. Kaum einer unserer Schüler ist körperlich und seelisch unbeschadet geblieben. Man muß behutsam mit ihnen umgehen. Sie brechen so schnell in Tränen aus.
    Aber sie leben. Sie haben überlebt. Ich auch. Wenn ich darüber nachdenke, kann ich das noch gar nicht fassen. Denn auf zwanzig Tote kommt ein Überlebender.
    Haben wir überlebt? Vielleicht bin ich als Nächster dran? Heute blieben mir mehr Haare als sonst im Kamm hängen. So fing es auch bei Judith an.
    Obwohl nach dem Bombentag schon wieder Kinder geboren wurden, nimmt die Bevölkerung weiter ab. Ich kenne Leute, die es nicht verantworten wollen, Kinder in diese zerstörte Welt zu setzen. Ich weiß von Frauen, die seit dem Bombentag unfruchtbar sind. Und die Strahlenkrankheit geht noch immer um.
    »Sie wird noch lange umgehen«, sagt mein Vater. »Sie lauert sogar auf die noch Ungeborenen.« Das habe ich zuerst nicht glauben wollen. Jessica Marta -  das war begreiflich gewesen: Sie hatte ja schon als Keim im Mutterleib gelebt, als die Strahlen auf sie eingewirkt hatten. Aber alle jene Kinder, die erst nach dem Bombentag gezeugt worden waren - wie sollte es möglich sein, daß auch
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