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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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Novembertod
    Fallschirmspringen gilt höchstrichterlich als nicht gefährliche Sportart.
    (div. Urteile, z.   B.   LArbGer Berlin
    vom 3.   7.   69, AZ 5   Sa 57   /   68)
     
    Es regnete, als Marie um kurz nach acht die Straße entlang zu ihrem Haus ging. Sie schritt rasch aus und sog die frische Abendluft
     ein, um ihre Aufregung, die hoffnungsfrohe Erwartung, die das heutige Gespräch ausgelöst hatte, im Zaum zu halten. Noch nie
     war sie so nah dran gewesen! Wenn das mit der Ausstellung klappte, bedeutete das ihren Durchbruch. In ein paar Tagen würde
     sie sich noch einmal mit Marlene Kattus, der Galeristin, treffen, und die Entscheidung würde fallen. Weil Marie so sehr mit
     dem Gedanken an die Konstanzer Galerie und ihren eigenen kometenhaften Aufstieg am deutschen und – ja – vielleicht am internationalen
     Kunsthimmel beschäftigt war, bemerkte sie den Wagen gegenüber erst im allerletzten Moment.
    Das alte Haus am See, in dem sie seit nunmehr gut einem halben Jahr wieder wohnte, lag am Stadtrand von Friedrichshafen, es
     war das letzte Haus vor dem Eriskircher Ried, das letzte Haus vor der Einsamkeit, und es hatte Nächte – und auch Tage – gegeben,
     an denen Marie einenbelebteren Ort dieser Einsamkeit vorgezogen hätte. Gerade wenn sie an die
Ereignisse
– ein Wort, das einen gnadenlosen Euphemismus darstellte – im vergangenen Herbst dachte.
    Sie erschrak zutiefst, als sie vor ihrer Gartenpforte den Wagen am anderen Straßenrand entdeckte: Jemand saß dort hinter dem
     Steuer und regte sich nicht. Marie hielt in ihrer Bewegung inne und starrte hinüber. Ja, der helle Fleck hinter der beschlagenen
     Windschutzscheibe war ein Gesicht. Da saß jemand in der Dunkelheit, reglos. Marie fühlte, wie eine eisige Angst in ihr hochstieg.
     Sie hatten ihn doch gefasst, er saß im Gefängnis! Das tat er doch – oder? Langsam, wie in jenen Träumen, in denen die Glieder
     zu Blei wurden und die sie während vieler Wochen gequält hatten, legte sie ihre Hand auf den Griff der Pforte, drückte ihn
     hinunter und das Tor schwang mit einem Quietschen auf, überlaut in der Stille des Abends. Aus dem Augenwinkel sah sie, dass
     die Person im Wagen sich immer noch nicht bewegte. Sie saß da, völlig still, das Gesicht ein Schemen hinter der Scheibe.
    Marie schob die rechte Hand in die Manteltasche, und ihre Finger ertasteten neben dem Schlüsselbund das Pfefferspray. Seit
     jenem Tag, der noch nicht allzu lange der Vergangenheit angehörte, trug sie es bei sich, wo immer sie hinging. Auf der Schwelle
     vor ihrer Haustür wandte sie sich um und sah nun direkt zu dem Wagen hinüber. Dann holte sie tief Luft. Das wollen wir doch
     mal sehen, sagte sie zu sich und ging die Stufen wieder hinunter, zur Pforte hinaus. Sie umklammerte das Pfefferspray so fest
     sie konnte. Als sie die Straße überquerte, hatte sie den Blick unverwandt auf den weißen Fleck gerichtet. Ich werde mich nie
     wieder ins Bockshorn jagen lassen, nie wieder, murmelte sie mit zusammengebissenen Zähnen.
    In den unzähligen Tropfen auf der Scheibe brach sichdas Licht und schillerte orangerot, so dass Marie das Gesicht immer noch nicht erkennen konnte. Sie zwang sich dazu, ruhig
     ein- und auszuatmen, ein und wieder aus   … Erst als sie direkt neben der Fahrertür stand, erkannte sie sie. Die Person hinter der Scheibe war Paula, ihre gute Freundin
     Paula, die blicklos, mit weit aufgerissenen Augen im Wagen saß und in den Regen starrte.
    Marie klopfte an die Scheibe, und als Paula nicht reagierte, riss sie die Fahrertür auf. »Paula«, rief sie aus, doch diese
     starrte weiter reglos in die Nacht. Marie beugte sich hinunter und fasste sie an der Schulter. »Was ist passiert?«
    Die Kinder, schoss es Marie in diesem Moment durch den Kopf, etwas ist mit den Kindern, ein Unfall. Als Paula immer noch keine
     Reaktion zeigte, schrie sie die Freundin an, schüttelte sie: »Ist was mit den Kindern, nun sag schon!« Sie sah Paula an, die
     fast unmerklich den Kopf schüttelte. In dem Moment fuhr Marie die Erkenntnis mit aller Wucht in die Glieder: Sommerkorn, es
     hatte mit Sommerkorn zu tun. Sie schwankte und musste sich am Wagendach festhalten. Mit tonloser Stimme flüsterte sie: »Dein
     Bruder.« Sie sah, wie Paula den Kopf zurücklehnte, gegen die Nackenstütze, wie sie plötzlich aufseufzte, ein zitternder Seufzer,
     wie nach einem Weinkrampf oder unmittelbar davor. Ihre Lippen bebten, als sie fast unhörbar flüsterte: »Erik ist
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