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Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe

Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe

Titel: Beautiful Americans - 02 - Kopfüber in die Liebe
Autoren: Lucy Silag
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1 • PJ
    Ich wünschte, du wärst hier
    Na, Annabel, jetzt hast du mich doch dazu gekriegt, dass ich dieses blöde Buch lese. Ich klappe Madame Bovary zu, den französischen Klassiker von Gustave Flaubert. Das war das Lieblingsbuch meiner Schwester, wie unschwer an den Eselsohren zu erkennen ist. Ich lege es auf meinen Schoß und betrachte das in Pastelltönen gehaltene Bild der Hauptfigur auf dem abgegriffenen Umschlag.
    Das Buch wackelt und bebt. Mein linkes Bein, das ich über das rechte geschlagen habe, zuckt dauernd reflexartig, ohne dass ich etwas dagegen tun kann. Meine Füße folgen einer Art Fluchtimpuls, sie wollen sich bewegen. Als ich heute Morgen durch den Schnee gestapft bin, den Blick starr geradeaus auf die nächtlich glitzernden Straßen des 17. Arrondissements gerichtet - dann des 8., des 9. und schließlich des 10. -, war das ein ziemlich gutes Gefühl. Gleichzeitig war mir aber auch ganz schrecklich zumute. Mir war flau im Magen und ab und zu kullerte mir eine Träne über die Wange, die den Frost auf meinem Gesicht schmelzen ließ. Aber mit jedem Schritt entfernte ich mich mehr und mehr von Ternes und kam Annabel immer näher.
    Annabel hat dieses Buch geliebt, aber ich kann nicht wirklich nachvollziehen, warum. Emma Bovary ist eine törichte Frau, die für ihr Unglück selbst verantwortlich ist, weil sie einfach nicht sehen will, wie gut sie es hat. Für ein bisschen  Aufregung und Abenteuer in Rouen wirft sie einfach alles hin.
    Kann das wirklich sein? Kann es sein, dass Annabel die Figur der Emma Bovary bewundert? Identifiziert sie sich mit ihr?
    Ich löse meinen Pferdeschwanz und trage meine langen Haare, die von der Fahrt und der längsten Nacht meInès Lebens verfilzt und fettig sind, offen. Dann setze ich meine Strickmütze auf. Das Grün der handgesponnenen Wollfäden, die meine Mom verwendet hat, ist eigentlich zu frisch und fröhlich für so einen Tag wie heute. Aber meine Mom konnte ja nicht ahnen, wo ich heute stecken würde. Sie wäre beunruhigt, wenn sie wüsste, dass ich nicht zu Hause bei meiner neuen französischen Familie bin. Aber wenn doch, würde sie vielleicht der Gedanke trösten, dass mir die Mütze bei der Suche nach meiner Schwester den Kopf wärmt. Ich ziehe sie mir bis über die Augen. Wenn mir doch nur wieder warm werden würde. Wenn ich die Welt da draußen auch so einfach ausschließen könnte.
    Innerlich unruhig, schiebe ich die Mütze wieder höher und suche nach meinen Handschuhen. Im einen Moment ist mir kalt, im nächsten dann plötzlich unglaublich heiß. Ich versuche, mich meiner warmen Kleidung zu entledigen, und spüre endlich ein bisschen frische Luft auf meiner Haut.
    Jedes Kleideretikett irritiert meine trockene, rissige Haut. Jedes noch so kleine, aber feine Geräusch im Waggon dringt mir bis ins Mark. Ich habe Durst. Am Gare du Nord habe ich ganze drei Euro für einen Café noir bezahlt. Jetzt will ich nicht noch mehr Geld für Wasser ausgegeben, bevor ich in Rouen ankomme. Was schon vor Stunden hätte der Fall sein sollen.
    Wieder blicke ich auf Madame Bovary.
    Vielleicht hat Annabel ja Emmas berühmten Ausspruch »Warum nur, lieber Gott, habe ich ihn geheiratet?« gelesen und sich dann mit einem Schaudern gefragt, ob sie wohl irgendwann wie Emma ihre eigene Heirat bereuen würde. Womöglich war Madame Bovary ja eine Art abschreckendes Beispiel, das meine Schwester dazu getrieben hat, aus der Stadt zu fliehen, an dem Tag, an dem sie ihren langjährigen Freund Dave heiraten sollte.
    Draußen zieht die Normandie, Gustave Flauberts Heimat, am Fenster vorbei - grau und düster, genau wie er es beschrieben hat. Heute früh, als sich der Nebel allmählich über der sanften Hügellandschaft dieser Küstenregion lichtete, habe ich gelesen, wie Emma durch eine ähnlich dunstige Landschaft fuhr, um ihren ersten Liebhaber zu treffen. Der Zug zuckelt langsam, aber stetig und ruhig nach Norden Richtung Rouen. Hierher ist Emma gefahren, um Leon zu treffen, ihren zweiten Liebhaber. In Rouen war es auch, wo Emma von ihrer übergroßen Sehnsucht nach einem anderen, romantischeren Leben überwältigt wurde. Ich habe so eine dunkle Vorahnung, dass es Annabel nach Rouen verschlagen hat, egal welche Absichten sie beim Davonlaufen hatte. Und ich selbst büxe jetzt auch heimlich dorthin aus, weil ich gesehen habe, dass Annabel diesen Städtenamen in ihrem Buch eingekringelt hatte. Was mir hier wohl widerfahren wird, mit der tragischen Madame Bovary in der Tasche, die mich
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