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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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…«
    Paula schüttelte den Kopf. »Nein, keine Verwechslung«, flüsterte sie.
    »Oh Gott, oh Gott«, war alles, was Marie sagen konnte, und dann noch einmal »oh Gott«. Nach einer Weile, als das Unfassbare
     in ihrem Kopf langsam begann Gestalt anzunehmen, sagte sie: »Wie kann denn so etwas passieren? Ich meine, ich erinnere mich,
     wie Erik sagte   …«
    »…   dass Fallschirmspringen sicherer ist als Reiten.« Paulas Stimme war kaum noch zu hören.
    Marie kehrte in Gedanken zurück zu einem Tag im Oktober. Sie sah Erik vor sich, groß und schlaksig, wie er in seinem Haus
     an der Dielentür stand, den Springeroverall unter dem Arm, zum Aufbruch bereit. Um seine Lippen spielte sein typisches Lächeln
     – ein Ausdruck von Ironie und Verschmitztheit. Auch Sommerkorn war an jenem Tag dabei gewesen, und sie erinnerte sich, dass
     die beiden Männer noch eine Weile übers Fallschirmspringen gesprochen hatten. Es war auch die Rede von einem Reserveschirm
     gewesen, das fiel ihr nun wieder ein. Mit gerunzelter Stirn sah sie Paula an, die blicklos und blass auf ihrem Stuhl kauerte.
     Schon hörte sie sich selbst reden, und noch während sie ihre Frage formulierte, kam sie sich töricht und hilflos vor.
    »Aber   … was war mit dem Reserveschirm?«
    Und da begann Paula zu weinen, lautlos zuerst, die Tränen rannen über das Gesicht in einem steten Strom, und aus ihrer Kehle
     drang bald ein seltsamer Laut, den Marie im ersten Moment gar nicht mit Paula in Verbindung brachte, denn es klang wie das
     Wimmern eines verendenden Tieres. Sie schluchzte auf, und das Schluchzen steigerte sich zu einem Ringen nach Luft. Marie legte
     die Arme um Paula, und so blieben sie eine Weile: Marie, dievon Krämpfen geschüttelte Paula haltend. Als das Schluchzen ein wenig abebbte, führte sie Paula ins Wohnzimmer, wo sie sie
     aufs Sofa bettete und zwei Decken über sie breitete. Einen Moment lang stand Marie da und betrachtete Paula. Sie fühlte sich
     unglaublich hilflos. Was sollte sie tun, was konnte sie tun? Wärme, dachte sie, zunächst braucht sie Wärme, und so lief Marie
     in die Küche und brühte Tee auf und holte die rote Wärmflasche. Als sie zurück ins Wohnzimmer kam, klapperte Paula mit den
     Zähnen und atmete schwer. Hyperventilierte sie etwa? Marie fühlte Panik in sich aufsteigen. Konnte man an einem Schock sterben?
     Eines nach dem anderen, eines nach dem anderen, betete sie sich selbst vor. Zuerst die Wärmflasche. Sie legte sie Paula an
     die Füße und setzte sich neben die Freundin, nahm sie in den Arm und hielt den bebenden Körper, der immer dramatischer nach
     Luft schnappte. Konnte man auf diese Weise ersticken? Marie wurde immer deutlicher, wie hilflos sie war, und nur mit größter
     Mühe gelang es ihr, ihre Angst zu unterdrücken. Da fielen ihr die Tropfen ein, die sie vor kurzem, als sie selbst knapp dem
     Tod entronnen war, von einer Polizistin verabreicht bekommen hatte. Irgendwann hatte sie das braune Fläschchen doch in ihren
     Rucksack gesteckt; es musste noch dort sein. Sie lief in die Diele, holte den Rucksack hervor, kramte darin herum, und tatsächlich,
     da war es. Sie ließ Wasser in ein Glas laufen, tat einige Tropfen hinein und setzte sich wieder zu Paula.
    »So, das trinkst du jetzt.« Mit einer Hand stützte sie die Freundin, mit der anderen Hand hielt sie das Glas an ihre Lippen.
     Das Wasser schwappte über, doch schließlich gelang es Marie, Paula dazu zu bewegen, einen Schluck zu trinken. Dann noch einen.
     Und langsam, ganz langsam – es war fast ein Wunder – ließ das Beben und Zähneklappern nach, und Paula wurde ganz schlaff und
     sackte aufsKissen. Marie stellte das Glas ab und zog die Decke enger um Paula. Sie musste jetzt einen klaren Gedanken fassen, tun, was
     in so einem Fall zu tun war. Die Kinder, richtig, was war mit ihnen?
    »Wo sind Anna und Leni?«
    »Bei einer Freundin. Ich bin sofort hierhergefahren. In Frau Traubingers Wagen   … Meiner ist in der Werkstatt.« Die Stimme versagte ihr.
    »Das heißt, sie wissen es noch nicht.« Oh Gott, dachte Marie, was war das alles entsetzlich, und sie fühlte wieder Panik in
     sich aufsteigen. Sie durfte gar nicht daran denken, wie die Kinder reagieren würden, wenn sie erführen, dass ihr Papa   … Marie schluckte. Sie betrachtete Paula, die mit weit aufgerissenen Augen ins Leere starrte.
    »Wann hast du es erfahren?«
    »Ich   … Als ich nach Hause kam. Ein Zettel klebte an der Tür. Von der Kripo. Ich sollte
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