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Novemberasche

Titel: Novemberasche
Autoren: dtv
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Fundstücke hin. Sommerkorn nahm die
     beiden Tüten; in der einen steckten ein paar Geldscheine, in der anderen ein Messer mit einem schwarzen Griff – ein Springmesser.
    »Habt ihr sonst noch was?« Sommerkorn gab Hasenberger die Tüten zurück.
    »Nichts. Außer einer durchweichten Zigarettenkippe, die wir auf dem Nachbargrab gefunden haben.« Hasenberger brummte noch
     etwas Unverständliches und sagte dann: »Wir sind hier fertig. Ist ja nicht viel zu holen, bei diesem Sauwetter.« Dann ging
     er zu den beiden Männern, die neben einer Zinkwanne darauf warteten, den Toten abzutransportieren.
    Sommerkorn nickte geistesabwesend und wandte sich noch einmal dem jungen Mann zu. Er stand da und ließ seinen Blick langsam
     über den Toten wandern. Ja, die ganze Szene hatte etwas Künstliches, etwas Arrangiertes. Sein erster Eindruck, dass der Junge
     etwas Statuenhaftesan sich hatte, vertiefte sich noch. Doch das lag nicht allein an der Reglosigkeit der Gestalt. Der Junge hatte hellbraunes,
     vielleicht auch blondes Haar, das ihm in Strähnen am Kopf klebte. Seine Wangenknochen und sein Kinn waren ausgeprägt, die
     Nase schmal und gerade. Das Bemerkenswerte an ihm aber waren die Augen, die von heller, ja fast leuchtender Farbe waren, Grün
     oder Braun, er konnte es nicht genau bestimmen.
    Ich werde das nie verstehen, dass man sich so mit Drogen vollpumpt. Dass man sein Leben einfach so wegwirft, dachte Sommerkorn.
     Ob vorsätzlich oder nicht. Die seltsame sitzende Haltung deutete jedenfalls darauf hin, dass es sich um einen dramatischen
     Akt des Abschiednehmens handelte. Ein als Stillleben inszenierter Selbstmord?, fragte sich Sommerkorn. Vielleicht waren die
     Verletzungen an den Handgelenken der diesem Akt vorauseilende Hilferuf. Jedenfalls war das bereits der vierte Drogentote im
     Bodenseekreis in diesem Jahr. Was per se und verglichen mit anderen Regionen Deutschlands eine geringe Zahl war. Wenngleich
     das für die Angehörigen auch kein Trost war.
    Sommerkorn schlug seinen Mantelkragen hoch, nickte den beiden Trägern zu und wandte sich ab. Irgendetwas war an dem Jungen,
     das Sommerkorn seltsam berührte. Das ihn an etwas oder jemanden erinnerte. Und während er durch die Dunkelheit zu seinem Wagen
     zurückging und der Kies unter seinen Schritten knirschte, grübelte er darüber nach, was das sein konnte.
     
    ☺
     
    Wieder hat Walser mich zum Vorrechnen an die Tafel geholt und mich dabei feixend angesehen. Ich glaube, der Typ hasst mich.
     Es kann doch nicht sein, dass der immer noch daran denkt, dass ich ihm mal einen Fehler nachgewiesen habe. Na ja, genauer
     gesagt,war’s ja nicht nur ein, sondern drei Mal. Auf jeden Fall hat er mich bei der schwierigsten Aufgabe vorgeholt, einer Integralrechnung,
     die es in sich hatte. Natürlich hat er gehofft, dass er mich diesmal kleinkriegt, dieser Sack. Aber wie immer hat er sich
     getäuscht. Ich hab sie gelöst, und dann musste er mich wohl oder übel loben. Als ich zum Platz zurückging, hab ich gesehen,
     dass sie enttäuscht waren, dass sie mich gerne stotternd und mit roter Birne da vorne gesehen hätten. Die übliche Verarsche
     konnten sie sich trotzdem nicht verkneifen. Nur der Neue hat mich angesehen und mir zugenickt.
     
    *
     
    Später wusste Marie nicht mehr, wie sie es geschafft hatte, die Freundin aus dem Wagen zu befördern, sie über die Straße zu
     führen, durch den Regen, der inzwischen bis auf ihre Kopfhaut und unter ihren Schal gedrungen war.
    Im Wohnzimmer war es kalt, also führte sie Paula in die Küche, setzte sie an den Tisch und begann mit wenigen geübten Handgriffen
     den alten Holzherd anzufeuern. Bald knisterte und zischte das Feuer im Herd. Sie füllte Wasser in den Kessel, sie stellte
     ihn auf die Metallringe und setzte sich Paula gegenüber. Sie ergriff ihre Hände – sie waren eiskalt – und fragte: »Was ist
     passiert?«
    »Er ist   … gesprungen. Heute   … Es sollte sein letzter Sprung in dieser Saison sein   …« Sie bedeckte ihr Gesicht mit beiden Händen.
    »Gesprungen? Du meinst, mit dem Fallschirm?«
    Paula nickte. Sie hatte die Hände immer noch vor dem Gesicht. Dann ließ sie sie langsam sinken und blickte an Marie vorbei
     auf etwas, das nur sie sehen konnte. Der Regen klopfte an die Scheibe, das Holzfeuer knackte im Herd, und hin und wieder rüttelte
     der Wind an den alten Fenstern.
    »Und wenn er es überhaupt nicht ist? Ich meine, wer hat ihn identifiziert, Paula? Eine Verwechslung vielleicht  
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