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Die letzten Kinder von Schewenborn

Die letzten Kinder von Schewenborn

Titel: Die letzten Kinder von Schewenborn
Autoren: Gudrun Pausewang
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ihr noch übrig war. An manchen Stellen war ihr Belag aufgerissen, wie geplatzt, und ihre Oberfläche war uneben geworden. Je weiter wir in Richtung Frankfurt kamen, um so welliger wurde sie. Es schien, als sei sie geschmolzen. Trotzdem war sie uns ein sicherer Weg, denn durch ihren Sockel, der sie auf weiten Strecken aus der Landschaft heraushob, gab sie uns festen Grund unter die Füße und bewahrte uns davor, in dem dichten Schneetreiben die Richtung zu verlieren.
    Aneinandergeschmiegt übernachteten wir in einem halbzerquetschten WC-Häuschen, das unter den Resten umgestürzter Bäume auf einem ehemaligen Parkplatz stand. Jens und die Mutter schliefen tief und atmeten ruhig, aber der Vater stöhnte im Schlaf, und lange bevor es hell wurde, war er schon wach. Ich schlief auch nur wenig in dieser Nacht, denn das Fahrrad war endgültig kaputt, und ich machte mir Sorgen, wie wir das Gepäck nun transportieren sollten. Um Bonames schlugen meine Gedanken und Träume einen großen Bogen: Ich hätte gern geglaubt, woran die Mutter glaubte. Aber ich wußte, daß der Vater recht behalten würde.
    Als wir am nächsten Morgen halberstarrt ans Tageslicht krochen, lag unter einem klarblauen Himmel eine blendendweiße Schneelandschaft vor uns, nach allen Richtungen hin unberührt von Spuren. Die Sonne ging gerade auf. Der Schnee lag hoch. Wir mußten waten. Die Mutter war bester Laune, sie scherzte mit Jens und mir. Aber der Vater schob den Wagen schweigsam und war kaum anzusprechen.
    Auf dem Weg nach Süden begegneten wir niemandem mehr. Wir waren allein. Wir kamen an die Abzweigung nach Bad Homburg. Ungeduldig wanderte die Mutter weiter. Der Vater schob den Kinderwagen stumm hinter ihr her. Ich hatte Mühe, ihnen zu folgen, denn den Fahrradanhänger ohne Fahrrad zu ziehen oder zu schieben war mühsam. Er war ja so schwer bepackt.
    »Jetzt muß Bonames bald zu sehen sein«, rief die Mutter und spähte nach Süden, in eine einförmige, leicht gewellte Schneewüste, in der nicht einmal mehr ein Baum stand. Nur in der Ferne schimmerte ein dunkles Band: der Main.
    Hier gab es auch keine Leitplanken und keine Schilder mehr. Aber der Vater kannte sich auf dieser Strecke aus. Jahrelang hatten wir in Bad Homburg gewohnt, und er war täglich über die Autobahn nach Frankfurt gefahren. Er suchte nach Kilometerpfählen. Er prüfte hier und dort die Unebenheiten im Schnee. Er fand die Abfahrt nach Bonames, wir wanderten sie entlang. Bonames hatte neben der Autobahn gelegen, die Hochhäuser hatten wir immer schon von weitem sehen können. Wir verließen die Fahrbahn und tappten querfeldein.
    »Es ist heute recht dunstig«, sagte die Mutter.
    Ich sah keinen Dunst. Man konnte bis weit in den Taunus, in den Vogelsberg, ja bis zu den ersten Hügeln des Odenwalds sehen. Als wir vor ein paar kleinen Erhebungen ankamen, blieb der Vater stehen, schob den Schnee mit dem Fuß weg und brachte Schutt zum Vorschein.
    »Wir sind in Bonames«, sagte er.
    Mutters Augen werde ich nie vergessen. Sie hob die Hand und ließ sie wieder fallen. Nach einer Weile sagte sie: »Gehen wir zurück.«

11
    Der Heimweg wurde zu einer einzigen Qual. Die Mutter kam kaum mehr vorwärts. Es schien uns, als wollte sie auch gar nicht mehr vorwärtskommen. Und immer wieder blieb sie stehen, faßte sich an den Leib und murmelte: »Es tritt mich so sehr.«
    In die Vogelsberg-Dörfer war nun auch die Grippe eingezogen. Überall sahen wir Bewegung auf den Friedhöfen. Nun hatten sich schon viele Dörfer mit Stacheldraht umgeben. Wir bekamen nirgends mehr Suppe, nirgends einen warmen Stall für die Nacht, obwohl der März klirrende Kälte brachte.
    Mein Rucksack war so gut wie leer. Schon während der letzten Tage hatten wir nur noch getrocknete Apfelschnitze und Pilzscheiben gekaut. Alle Kartoffeln und Möhren waren längst gegessen. Nur eine welke Steckrübe war noch da. Mit aufgesprungenen Lippen leckten wir Schnee, wenn wir Durst hatten. Und wir hatten immerzu Durst
    Der Vater erschlug einen Hund, der uns hungrig an die Beine fuhr. Er wollte ihn kochen oder braten, aber wir bekamen nirgends Feuer her. Tagelang trug ich das steifgefrorene Tier im Rucksack. Als wir endlich Feuer machen und den Hund auftauen konnten, wurde meinem Vater beim Schlachten übel. Er hatte so was noch nie gemacht. Und Jens und ich brachen alles, was wir gegessen hatten, wieder aus. So eine üppige Mahlzeit schafften unsere Mägen nicht mehr. Von den zähen und halbrohen Resten des Terriers lebten wir
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