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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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Serge
    Die Mühle
    Die ganze Welt ist aus dem Lot, auch wenn es die meisten Leute noch nicht bemerkt haben. Bis jetzt wirkt alles normal, aber Serge spürt ihn beim Atmen, den schwachen Hauch des Irrsinns in der Luft. Es ist acht Uhr morgens am Montag, dem 1. September 2008, die Londoner Börse hat gerade geöffnet, und um ihn herum rotieren die Trader längst.
    Der Handelsraum der Finance and Trading Consolidated Alliance erinnert an eine riesige Geldmühle, die im industriellen Maßstab Profit ausstößt. In der großen Halle mit den sechs langen doppelten Tischreihen haben ein paar Hundert Leute Platz, und auf jedem Tisch registrieren mehrere flimmernde Monitore Minute für Minute das rastlose Auf und Ab der Märkte. Die Fenster sind abgedunkelt, damit kein Sonnenstrahl die Sicht auf die Monitore stört, und die hohe Decke verschluckt das unablässige geschäftige Murmeln der Stimmen und das Klicken der Tastaturen. Trotzdem ist die Luft hier drin irgendwie tot, es riecht angesengt und schweflig nach dem heißen Plastik der Hardware, die seit der Installation nonstop gelaufen ist, denn die Computer nur einen Augenblick abzuschalten, hieße, einen Augenblick lang kein Geld zu scheffeln.
    Zu zwei Seiten des Handelsraums befinden sich die verglasten Büros der Teamleiter. Das Eckbüro am Ende der Nordseite steht den Quants zur Verfügung, die für den Securitisation Desk zuständig sind – das spiegelt ihre Stellung in der Hierarchiewider. Die quantitativen Analysten, das sind die sechs Männer und eine Frau, die mittels mathematischer Hexerei dem Risiko das Risiko nehmen sollen.
    Die Frau ist Maroushka. Von seinem Platz sieht Serge sie durch die offene Tür des Glaskastens, im Drehstuhl zurückgelehnt, die Füße auf dem Tisch, das Handy ans Ohr gedrückt. Keine Schuhe. Keine Strumpfhose. Die Zehennägel glitzern wie Rubine. Sie spricht in ihrer seltsamen, sprudelnden Sprache, und unwillkürlich lauscht er, obwohl er sich auf die Daten auf seinen Bildschirmen konzentrieren müsste. Er hat noch nie zuvor gedichtet, aber er war auch noch nie so inspiriert.
    Prinzessin Maroushka!
    Höre das Lied von Serge!
    Unserer Schicksale Werke
    auf diesem bla-bla ...
    Grünen und sonnigen? Dunkel satanischen?
    Berge ...
    »Hey, Sergej!« Sie sieht, dass er sie anstarrt, und winkt mit vier Fingern in seine Richtung.
    Er stellt sich in die Tür. »Hallo, schöne Prinzessin aus Shy...« Wie heißt das noch mal, wo sie herkommt? »Hast du dich am Freitag gut amüsiert auf deiner Geburtstagsfeier?«
    »Sehr gut, danke. Du alles klar? Ich glaube, du warst viel betrunken. Du bist hingefallen auf Boden.«
    »Ja. Ich war ein bisschen blau. Aber dich auf dem Tisch tanzen zu sehen, dafür hat es sich gelohnt.«
    »Volkstanz aus mein Land. In Shytomyr ist normal an Geburtstag.« Sie wirft ihm einen Luftkuss zu, dann wendet sie sich ab, um weiterzutelefonieren.
    »Du solltest das Ding lieber wegstecken. Wenn Timo dich sieht, kriegst du Ärger.«
    »Wieso?«
    Ihre Beine sind glatt und cremig blass, an den Knöcheln gekreuzt, die Waden gewölbt, wo sie aufeinander liegen, die Rundungen ihrer Knie verschwimmen im Schatten, bevor sie unter dem Saum ihres zart aprikosenfarbenen Rocks verschwinden. D&G? Versace? Ihr Parfum ist erdig, moschusartig, unterschwellig wild – abstoßend beinahe, doch tatsächlich ist es unglaublich erregend.
    »Wir sollen hier drin keine privaten Handys benutzen.«
    »Sollen nicht?« Sie zieht eine Braue hoch. »In mein Land ist normal, machen alle.«
    »Hat was mit Sicherheit zu tun. Alle Telefongespräche müssen registriert sein. Wegen Insiderhandel und so?« Er lehnt in der Tür, die Hände lässig in den Hosentaschen. Merkt sie, wie cool er eigentlich ist, hinter seinem ironisch nerdigen Äußeren?
    »Ich nicht Handel. Ich rufe arme Mutter in Shytomyr an. Sie hat Brust-OP.«
    »Oh, das tut mir leid.«
    »Warum tut dir leid?« Sie legt ihre reizende Stirn in Falten.
    »Ich meine, die meisten werden wieder ganz gesund.« Serge faselt: »Heutzutage haben sich die Heilungschancen dramatisch verbessert ...« Er versucht weise und positiv zu klingen, auf der Basis von null Ahnung. »Trotzdem, es ist bestimmt eine schwere Zeit für sie ... und für dich auch ... das Warten und die Folgebehandlung ...«
    »Nix Folgebehandlung. Zu teuer.« Sie schürzt die Lippen und hebt ihre kleine süße Nase.
    »Es gibt keine kostenlose medizinische Versorgung in ... euerm Land?«
    »Natürlich. Aber nur nicht für Brust-OP.«
    Timo
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