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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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großes Fest, trommeln alle von früher zusammen, die ganze Kommune, erinnern uns an alte Zeiten ...
    Hegt sie etwa nostalgische Gefühle für die Linsenpampe? Die grün gestrichenen Dielen? Die Baumwollkaftane? Die Haushaltspläne?
    ... feiern unser gemeinsames Leben ...
    Kochplan. Putzplan. Waschplan. Kinderbetreuungsplan. Sexplan. Alle Pläne hingen in der Küche an der Pinnwand neben der Einkaufsliste aus.
    Wir möchten Euch gern dabeihaben, Dich und Serge und Oolie-Anna. Aber sag Oolie noch nichts davon.
    Ha! Das Ganze muss mit Oolie-Anna zu tun haben. Am Ende des Briefs steht in kleinerer gequetschter Schrift ein PS:
    Vielleicht kannst Du Dich mit den anderen Kommunenkindern in Verbindung setzen und sie auch einladen? Ich würde so gern sehen, was aus ihnen geworden ist.
    Klar, ihre Mutter denkt immer noch, Clara hätte massenhaft freie Zeit. Anders als ihr Bruder Serge – der als ausgewiesenes Genie von allen familiären Pflichten befreit ist, weil er ja angeblich an seiner Doktorarbeit sitzt. Und das schon seit Jahren. »Serge ist so intelligent – aber er braucht einfach Zeit«, sagt Doro. Mein Gott, wie lange kann so eine Promotion schon dauern?
    Zwischen ihrem Bruder, dem Genie, und der Behinderung ihrer Schwester ist für Clara die Nische der Vernünftigen übrig geblieben, die alles organisiert, auf die sich jeder verlassen kann. Was auch in Ordnung ist, nur dass sie manchmal auch gern jemanden hätte, auf den sie sich verlassen kann.
    Sie stopft den Brief wieder in die Tasche und holt das Telefon heraus, um Doro anzurufen, aber dann überlegt sie es sich anders und schreibt eine SMS an Serge.
    Ruf mich an, Serge. Unsere Eltern haben irgendwas vor.
    Dann geht sie ins Lehrerzimmer, um ihre Kollegen zu begrüßen.
    Es herrscht prickelnde Schuljahresanfangsatmosphäre; alle zeigen ihre Sonnenbräune und ihre Urlaubsbilder vor, und es werden Informationen über die neuen Klassen mit deren Lehrern vom letzten Jahr ausgetauscht. Von Mr. Kenny erfährt Clara, dass Jason Taylor klaut und immer für Ärger gut ist, dass Dana Kuciak aus Polen die Klassenstreberin ist und dass Robbie Lewis unter dem Tisch masturbiert. Der arme Mr. Kenny, der seit vierzig Jahren vierzig Zigaretten am Tag raucht, ist ein Opfer des Rauchverbots auf dem gesamten Schulgelände, das der neue Rektor erlassen hat, und seine Hände zittern unkontrolliert.Trotzdem wünschte Clara, er hätte ihr nichts über ihre neuen Schüler erzählt. Manchmal ist es besser, wenn man sich selbst ein Urteil bildet.
    Um zehn vor neun klingelt es auf dem Hof. Mit einem Geheul schriller Stimmen stürmt die 6F in die Klasse, und Claras Tag beginnt.
    Den Morgen verbringen sie damit, einander zu beschnuppern, und aus der undifferenzierten Masse von Kindern entstehen allmählich zweiunddreißig Individuen mit ihren Eigenarten, Problemen, schwierigen familiären Hintergründen und besonderen Gaben. In solchen Momenten hat Clara das Gefühl, dass ihr Beruf zugleich der beste und der schwerste auf der Welt ist.
    Bis Mittag kommt die Sonne heraus, und im Klassenzimmer wird es heiß und stickig. Nach sechs Wochen Ferien sind die Kinder zappelig, wollen raus ins Freie, solange es noch warm ist. Clara will sich gerade auf den Weg ins Lehrerzimmer machen, um sich einen Kaffee zu holen, bevor sie Pausenaufsicht hat, als Jason Taylor zu ihrem Tisch geschlurft kommt. Er ist ein blasser, dürrer Junge mit dunklen Ringen unter den Augen und dünnem mausbraunem Stoppelhaar.
    »Bitte, Miss, ich hab mein Essensgeld vergessen. Meine Mam sagt, könnten Sie mir bis morgen was leihen?«
    Von Nahem steigt ihr sein Geruch in die Nase – Zigarettenrauch, altes Pommesfett und Pipi. Sofort hat sie ein Stereotyp seiner Mutter vor Augen: gleichgültig, übergewichtig und ungepflegt, die Art von Frau, die im Schlafanzug einkaufen geht. (Sozialhilfeempfängerin gibt Kindergeld für Zigaretten und Alkohol aus.)
    »Tut mir leid, Jason. Du weißt, dass ich das nicht tun kann.«
    »Bi-i-itte, Miss.«
    »Bekommst du nicht die Schulspeisung?«
    »Nein, Miss. Weil, meine Mam arbeitet bei Edenthorpe.«
    Schon passt das Stereotyp nicht mehr ganz zu Mrs. Taylor.
    »Was ist, Miss? Vertrauen Sie mir nicht?«, jammert er.
    Er ist hartnäckig, der Kleine.
    Als sie vor drei Jahren hier an der Schule angefangen hat, hatte sie lauter Ideen, wie sie dieser armen Gemeinde helfen würde, wie sie den Funken entzünden würde, der die Kinder zum Lodern brächte und sie aus dieser tristen, engen
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