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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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versehentlich den Jackenärmel in den Milchschaum ihres Cappuccinos tunkt. Sie wischt mit der Serviette über den Ärmel und verreibt das Kakaopulver zu einem braunen Streifen. »Marcus und ich wollen heiraten.«
    »Wie kommt das denn, Mum?«
    Liebe auf den ersten Blick kann es nicht sein, denn sie und Marcus leben schon seit Ewigkeiten zusammen, schon lange bevor er und Clara zur Welt kamen. Doch Doro veranstaltet gern ein bisschen Theater, also hebt er die Brauen und beugt sich vor.
    »Erzähl mal.«
    Sie taucht den Finger in den Milchschaum und leckt ihn ab. Gott sei Dank sind sie nicht bei Franco’s, wo jemand von der FATCA sie sehen könnte.
    »Wir dachten, es wäre schön, unsere Liebe offiziell zu machen, nach all den Jahren.«
    Obwohl Serge ein Experte für Unvorhersehbarkeiten ist, verblüffen ihn die Kurswechsel seiner Mutter bis heute. In der Kommune war die Ehe als repressive patriarchalische Institution geächtet. Und jetzt sitzt sie da und hat Tränen der Rührung in den Augen.
    »Herzlichen Glückwunsch, Mum! Hast du den alten Schwerenöter endlich rumgekriegt! Haha.«
    Herrgott noch mal, sie sind über sechzig! Kriegt sein Vater überhaupt noch einen hoch?
    »Ja, wir haben viel zu feiern: Ich und Marcus machen es amtlich. Clara wird zur Leiterin der Naturwissenschaften befördert. Oolie hat ihren ersten Job. Das vierzigjährige Jubiläum von Solidarity Hall. Und bald deinen Doktor.«
    Oje. Wir nähern uns gefährlichem Terrain.
    »Schöne Jacke, Mum. Ist das ein Designer-Label?« Er schindet Zeit, überlegt, wie er es ihr am besten beibringen soll.
    »Jaeger ...« Doro zögert. »Natürlich recycelt.«
    Sie meint Oxfam. »Du und dein Recycling, Mum! Es ist doch so ...«
    »Wir müssen alle lernen, mit weniger zu leben, Serge. Weniger Verschwendung! Weniger Gier! Weniger sinnloser Konsum!«
    Doro hat eine lange Liste von Dingen, die sie verachtet, darunter Konsumismus, Rassismus, Krieg, Botox, Jeremy Clarkson und Transfettsäuren. Vielleicht gehören Banker auch schon dazu; wenn nicht, ist es nur eine Frage der Zeit.
    »So funktioniert das nicht, Mum. Die Wirtschaft hängt davon ab, dass sich die Leute Geld leihen und es ausgeben – so entsteht Wohlstand.«
    Er weiß, dass diese schockierende Wahrheit jemandem ihrer Generation gegen den Strich gehen muss. Für sie war Kapitalismus immer der große Buhmann.
    »Das ist doch lächerlich. Wie können Schulden Wohlstand schaffen?«, schnaubt sie. »Leute, die so was behaupten, sind offensichtlich noch nie in Doncaster gewesen.«
    Die Sache gestaltet sich schwieriger, als er gedacht hat.
    »Recycling ist vielleicht gut für die Umwelt, Mum, aber die Wirtschaft braucht Wachstum.«
    »So ein Quatsch. Wir können die Ressourcen unseres Planetennicht immer weiter für überflüssigen Krempel verschwenden und dabei Müll- und Schuldenberge anhäufen.«
    Sie hat die peinliche Angewohnheit, in der Öffentlichkeit laut zu werden, als wollte sie die schlummernden Amseln wecken. Aber Redenschwingen ist wahrscheinlich eins der wenigen Vergnügen, das man in ihrem Alter noch hat. Im schrägen Licht, das durchs Fenster fällt, sehen die Fältchen über ihrer Oberlippe aus wie zerknittertes Papier, mit tieferen Linien zwischen Mundwinkeln und Nasenflügeln. Eindeutig Subprime. Ihr letzter Geburtstag war die große Sechs Null. Arme Doro. Das Alter steht ihr nicht. Na ja, wem steht es schon?
    »Wenn alle so wären wie du, Mum, würde das System zusammenbrechen.«
    »Aber genau das wollen wir doch. Oder?«
    »Ja, aber ...« Er lächelt nachsichtig. Doros Unlogik nimmt einem irgendwie den Wind aus den Segeln.
    »Wie läuft es mit der Doktorarbeit?« Sie wechselt das Thema und recycelt nebenbei ein paar Zuckertütchen vom Tisch in ihre Handtasche. »Erinner mich noch mal, mein Schatz – worum geht es?«
    »Die Hausdorff-Besicovitch-Dimension, Mum.«
    Doro nickt verständnislos. Diese Unterhaltung führen sie fast jedes Mal. Sie scheint es nie zu begreifen.
    »Chaostheorie. Der Schmetterlingseffekt, weißt du? Kleine Ereignisse, die enorme, unvorhersehbare Folgen haben können? Wie der Schlag eines Schmetterlingsflügels in Mosambik, der zu einem Taifun in Thailand führen kann. Hast du schon mal von Poincaré gehört?«
    »Der Typ mit dem Kaninchen?«
    »Das war Fibonacci.«
    »Ach ja. Ich hab immer gewusst, dass du ein Genie bist, mein Schatz. Eines Tages werden sie ein Theorem nach dir benennen.«
    Schon als Kind hat Doro ihm immer gesagt, wie intelligent ersei, und zwar
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