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Akte Mosel

Akte Mosel

Titel: Akte Mosel
Autoren: Mischa Martini
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    Wäre nicht das nervende Knattern seines Mofas, könnte er etwas von der Ruhe um ihn spüren. So aber pflügt er mit dem lauten Gefährt durch die sonntagsträgen Dörfer entlang der Mosel. Seit dem Frühschoppen ist er unterwegs. Er ist nicht zuhause zum Mittagessen gewesen. Egal.
    Bei Thörnich fährt er den Berg hoch. Die Mittagshitze staut sich hier an den Weinbergshängen. Das Zweirad wird langsamer. Der Fahrtwind ist heiß. Auch in Bekond ist kein Kind auf dem Spielplatz.
    Ein Sportflugzeug startet vom Föhrener Flugplatz und fliegt dröhnend über ihn hinweg. Im Dorf biegt er von der Straße auf einen schmalen Weg ab. Der führt über einen Holzsteg. Den kleinen Bach neben dem Geländer sieht er nicht. Der Helm beschränkt die Sicht. Dumpf hört er den Motor im Leerlauf tuckern. Er sieht die Kinder auf dem Spielplatz. Zwei Jungen sind am Klettergerüst. Am Sandkasten kniet ein Mädchen.
    Er hält an. Die Kinder beachten ihn nicht. Schweiß läuft ihm über die Brille. Er wischt ihn mit dem Ärmel ab. Der Motor hat nur noch eine niedrige Drehzahl und brummt unregelmäßig. Abgase steigen ihm in die Nase. Das erinnert ihn daran, wie vor langer, langer Zeit das Moped des Mannes gerochen hat, der vielleicht sein Vater war.
    Er steigt ab und schiebt das Mofa zu dem Mädchen am Sandkasten. Es wirft Glaskugeln in eine Kuhle. Wieder wischt er den Schweiß von der Brille.
    »Dein’ Mutti … schickt mich.«
    Das Mädchen dreht sich zu ihm um. Es schaut ihn an. Dann blickt es zum Klettergerüst.
    »Dein’ … Mutti!« wiederholt er und stellt den Motor ab.
    »Die Mama hat Dienst«, sagt es.
    »Deshalb komm’ … ich ja«
    »Und der Papa?«
    »Kann … net«, er versucht, nach dem Arm des Kindes zu greifen.
    Es weicht aus und hopst in den Sandkasten.
    »Los …«, mahnt er.
    »Ich hole noch die Kugeln.«
    Er dreht sich um. Die Jungen vom Klettergerüst starren herüber.
    Er schiebt das Mofa zurück zur Holzbrücke. Das Mädchen folgt. Nebenan liegt neben der leeren Schule ein dicht mit Hecken bewachsenes Grundstück. Da will er hin. Nur allein sein, mit seinem Schatz. Mehr nicht!
    Hinter der Brücke schaut er wieder zurück. Die Jungen raufen miteinander. Er greift nach dem Arm des Mädchens, etwas zu fest. Es gibt einen Schmerzenslaut von sich. Kugeln fallen ihm aus der Hand. Es will sich bücken. Er packt fester zu und zieht es weiter.
    »Laß’ los! Meine Kugeln! Das tut weh!«
    Mit der einen Hand schiebt er das Mofa, mit der anderen zieht er das Mädchen, das nun lauter jammert. Schweiß läuft ihm über die Brille. Er kann ihn nicht abwischen. Auf der Straße blickt er sich um.
    »Mir sinn … gleich da«, versucht er, das Kind zu beruhigen.
    Das Mädchen weint.
    »Is gut, et passiert nix,« er zieht das Mädchen vom Bürgersteig unter niedrigen Bäumen hindurch. Zweige schlagen gegen seinen Helm. Das Mofa läßt er hier zurück. Als sie tiefer ins Gestrüpp gehen, hört er es hinter sich rascheln. Die Jungen kommen gelaufen. Sie rufen etwas. Er läßt das Mädchen los.
    Mit den Armen die Äste beiseite stoßend, hastet er zum Mofa zurück, wirft es an und fährt mit Vollgas unter dem Gestrüpp hindurch, ohne sich umzudrehen.
     
    *
     
    Walde steht in der Nachmittagshitze auf dem Bahnsteig und schaut gedankenverloren die Schienen entlang. Er starrt auf das große Plakat gegenüber. Das Porträt der Raucherin verwandelt sich in das der 12-jährigen Nicole. Es ist das erste Bild, das in der Akte eingeklebt ist. Auf diesem ist sie noch am Leben. Es folgen Nahaufnahmen der Partien mit den Einstichstellen der spitzen Tatwaffe. Ob es ein scharf gefeilter Schraubendreher, ein Zimmermannsnagel oder ein Eishacker war, konnte bis heute nicht festgestellt werden. Was damit angerichtet wurde, kann Walde nicht vergessen …
    Der Zug taucht aus der flimmernden Luft auf, noch bevor er zu hören ist. Walde bückt sich und faßt die heißen Griffe der Koffer. Viel zu früh. Die Lok ist noch nicht am Bahnsteig angekommen. Er haßt Abschiede. Als endlich die Waggons quietschend vorbeirollen, streift ein Luftzug seine schwitzende Stirn.
    »Werde ich dir fehlen?« Anna steht von der Bank auf und umarmt ihn.
    Er steht steif da, die Koffer ein wenig seitwärts vom Körper gestreckt, und wartet darauf, daß sie ihn wieder losläßt.
    »Du bist ja noch da«, er zieht die Schultern hoch und geht zu den sich öffnenden Türen. Leute steigen aus. Walde wartet. Als Anna dicht an ihm vorbei die Stufen hinaufsteigt, schaut sie ihm
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