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Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere

Titel: Die Werte Der Modernen Welt Unter Beruecksichtigung Diverser Kleintiere
Autoren: Marina Lewycka
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mit solcher Überzeugung, dass er ihr fast geglaubt hätte, obwohl er tief im Innersten seine Zahlentricks absolut banal fand, das konnte doch jeder! Seine mathematische Begabung, diese Neigung, überall Muster zu erkennen, kommt ihm oft mehr wie eine Schwäche vor – eine Überempfindlichkeit, wie andere Leute sie gegen Pollen oder Seifenpulver haben.
    »Dieses Projekt, an dem du arbeitest, Serge ... gibt es auch irgendeine praktische Verwendung dafür?«
    »Es ist ein Instrument, mit dem man Dinge vorhersehen kann, die allgemein als unvorhersehbar gelten ...«
    »Wie die Lottozahlen?«
    »So ungefähr. Auch wenn es mehr um Epidemien, Erdbeben und Tornados geht.«
    »Du bringst es bestimmt mal zu sagenhaftem Reichtum«, bemerkt sie unschuldig.
    »Wenn es so weit ist, mache ich mit dir den Einkaufsbummel deines Lebens.« Er lächelt in sich hinein. Vielleicht passiert das schneller, als sie denkt. »Und zwar nicht bei Oxfam, Mum.«
    »Was hast du gegen Oxfam?«
    »Nichts. Ich dachte nur, du würdest vielleicht gern mal ...«
    Sie beugt sich über den Tisch und sieht ihn kritisch an. »Was ist das für ein todschicker Anzug, den du anhast? Der ist bestimmt nicht von Oxfam.«
    Als er seinen ersten Gehaltsscheck bekam, hat er in einer Boutique in Shoreditch beim Ausverkauf viel Geld gelassen.
    »Ermenegildo Zegna, Mum, aber er war runtergesetzt. Ich habe weniger als die Hälfte dafür bezahlt.«
    Seine Mutter schürzt die Lippen, als wüsste sie nicht, ob sie sich über die Marke ärgern oder über das Schnäppchen freuen soll.
    »Und warum trägst du diese dicke Brille, mein Schatz? Sie steht dir nicht. Du siehst aus wie Buddy Holly.«
    »Das ist ja der Witz.«
    »Aber er war groß und gutaussehend, Schatz.«
    »Mum ...«
    »Tut mir leid. Ich wollte nicht sagen, dass du nicht groß und gutaussehend bist. Jedenfalls nicht nicht gutaussehend, aber was ich sagen wollte, ist ...«
    »Schon gut, Mum.«
    »Aber mit der Brille siehst du so – «
    »Das ist doch ironisch.«
    »Wie kann eine Brille ironisch sein?«
    »Das geht. Vertrau mir.«
    Doro lehnt sich in ihrem Stuhl zurück und lacht, ein tiefes, reifes Glucksen. Er lacht mit, und dabei merkt er, wie lieb er Doro hat, mit ihren schlechten Klamotten, den Falten und der Fröhlichkeit. Er würde sie gar nicht anders haben wollen – na ja, ein paar Kleinigkeiten vielleicht. Aber im Herzen weiß er, dass er ein Mamakind ist.
    Clara dagegen kommt nach Dad. Immer wenn er an seine Schwester denkt, hört er, wie in seinem Hinterkopf eine Tür zuschlägt. Obwohl sie nur drei Jahre älter ist, hält sie ihm ständig Vorträge, wie er sein Leben zu leben hat. Nie versäumt sie eine Gelegenheit, ihn eines Besseren zu belehren, wenn sie mal wieder findet, er macht etwas falsch. Beispiel: »Mathematik ist so abstrakt, Serge. Du solltest dich mehr mit der wirklichen Welt auseinandersetzen.«
    Mit der »wirklichen Welt« meint sie den deindustrialisierten Norden. Sie hält sich für so eine sympathische Samariterin mit dem Herzen am rechten Fleck, die hoffnungslosen Kindern Bildung bringt, dabei ist alles nur ein Ego-Trip, damit sie sich überlegen fühlen und den anderen ein schlechtes Gewissen machen kann wegen des Lebens, das sie führen, und damit sie sich selbstgerecht über Dinge auslassen kann, von denen sie nichts versteht, wie Klimawandel, Mode oder Kapitalismus. Er will gar nicht wissen, was sie zu sagen haben wird, wenn sie von seinem neuen Job erfährt.
    Sie ist nicht hässlich – groß und schlank wie Doro, dieLocken und die umwerfenden blauen Augen hat sie von Marcus –, aber die Männer trauen sich nicht in ihre Nähe, weil sie Angst vor ihr haben. Ihren letzten Freund, einen ganz anständigen Typen namens Josh, Bauingenieur, hat sie anscheinend abserviert, weil er immer allem zugestimmt hat, was sie sagte. Soweit Serge weiß, ist sie seit einem Jahr Single – kein Wunder.
    Wahrscheinlich ist Clara so geworden, weil sie das erste Baby in der Kommune war. Sie wurde 1976 geboren und nach Clara Zetkin benannt, der deutschen Protofeministin und Erfinderin des internationalen Frauentags. Damals war das Essen in der Kommune besonders grässlich, weil die Vorläufer der »neuen Männer« das Kochen übernahmen und in planlosem Eifer trockene Bohnen, Linsen und Gemüse zusammenwarfen, während die Frauen rumsaßen und sich über die »Suppennation und den schweinischen Herd« beschwerten, so die neunjährige Clara, die mitmachen durfte. Als er 1979 zur Welt kam, nannten sie
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