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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Michael freute sich nicht einmal. Er trainierte nur noch härter und länger, und bald gehörte er in seiner Altersgruppe zu den besten Läufern im Saarland. Trainer sprachen ihn an, ob er nicht für ihren Verein starten wollte.
    Ich verstand nicht, warum er sein Training so forcierte. Fragte ich ihn, dann bekam ich zu hören: „Das tue ich alles nur, um gesund zu bleiben. Du willst doch nicht nur Schulden erben, oder?“
    Es war gewiß erfreulich, daß er gesund bleiben wollte, aber das war nicht die ganze Wahrheit. Michael hat sein Leben lang immer alles bis ins kleinste Detail geplant. Ich spürte, daß das viele Laufen, das ständige Training einem anderen Zweck galten. Er verfolgte irgendein bestimmtes Ziel, ich wußte nur nicht welches, obwohl ich es mir hätte denken können.
    Im Sommer 2001 war er auf der Höhe seiner Form angelangt. Er startete zum ersten Mal bei einem dieser Ultra-Läufe, die über hundert Kilometer gehen, und kam als Bester seiner Altersklasse ins Ziel. Im selben Jahr lag der Jahresumsatz unserer Kanzlei über fünf Million Mark. Michael war nun eine der besten Adressen in steuerlichen Fragen für Stiftungen, Kirchen, Vereine und betuchte Privatleute im ganzen Saarland. Durch einen strikten persönlichen Sparkurs und einen teilweisen Forderungsverzicht unserer Gläubiger gelang es uns im Herbst dieses Jahres, endlich schuldenfrei zu werden. Aber nichts von alldem schien Michael auch nur zufrieden zu machen, von glücklich will ich gar nicht reden. Er war angespannter als in den Jahren zuvor. Er schlief schlecht und fing an, Kleinigkeiten zu vergessen. Unser erstes neues Auto seit Florians Tod fuhr er nach einer Woche zu Schrott. Ich schob es auf die Jahreszeit. Herbst und Winter sind für uns immer die schlimmsten Jahreszeiten. Im Oktober ist Florian verschwunden, und im Dezember wurde er gefunden. Aber im Jahr 2001 war es nicht nur der Herbst, der Michael zu schaffen machte, denn irgendwann sagte er beim Frühstück zu mir: „Nicolai kommt im Januar raus.“
    Das also war es.
    „Woher weißt du das?“
    „Christian Schirra hat es mir gesagt.“
    „Und? Können wir was dagegen tun?“
    Das war nur so dahingesagt. In Wirklichkeit wollte ich gar nichts gegen Nicolais Entlassung unternehmen. Ich wollte mich nie mehr mit Nicolai beschäftigen müssen, ich wollte ihn einfach vergessen und endlich zu einem normalen Leben zurückkehren.
    „Nein, wir können gar nichts tun.“
    „Und was passiert dann mit Nicolai? Bleibt er weiter unter Beobachtung? Wird er therapiert? Was macht der Staat mit so einem?“
    Michael lachte kurz und unlustig.
    „Was die mit so einem machen? Gar nichts. Wenn der entlassen wird, stehen doch schon Fernsehen und BILD-Zeitung bei seiner Mutter vor der Wohnung, denn der deutsche Jack Unterweger kommt endlich aus dem Maßregelvollzug zurück. Dann wird er Hausautor bei diesem Peymann, der hat ihm doch eine Stelle angeboten. Und irgendwann schreibt er wieder ein Stück oder einen Roman, in dem ein Kind umgebracht wird oder gleich mehrere, und dann, wenn ihn die Lust überkommt, wenn er ein bißchen gefrustet ist, wenn ihm wieder irgendeine Schlampe den Laufpaß gegeben hat, dann fährt er mit dem Auto durch die Gegend, holt sich ein Kind, hält auf einem Parkplatz an, geht mit dem Kind in den Wald, zieht ihm die Hosen runter und ...“
    „Hör auf, Michael“, schrie ich, „hör auf, ich halte das nicht aus. Was willst du denn tun, wenn er entlassen wird?“
    „Gar nichts werde ich tun. Was kann ich denn tun? Nein, ich werde so weiterleben wie bisher. Ich werde ins Büro gehen, ich werde laufen, ich werde mich im Hospiz um die Kinder kümmern. Und ich werde zum Friedhof gehen und mit Florian reden, und das wird so weitergehen, bis es irgendwann einmal aus ist.“
    Ich sah ihn an, wie er da vor mir stand: breitbeinig, die Hände in den Hosentaschen, hager, gebeugt und grauhaarig inzwischen, aber immer noch groß, kräftig und angsteinflößend, wie er es immer gewesen war. Ich spürte, daß er mir nicht die Wahrheit sagte, aber ich wußte nicht, was die Wahrheit war. Es war klar, daß er etwas plante, aber noch konnte oder wollte ich einfach nicht zwei und zwei zusammenzählen. Als der Dezember begann, wurde er ruhiger. Der Januar kam und ging, Nicolai wurde entlassen, aber wir redeten kein einziges Mal darüber. Ich atmete auf.
    Im Juni 2002 flogen wir für vier Wochen nach Neuseeland. Es war die erste Reise seit Florians Tod, und sie tat uns gut. Nach unserer
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