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Zementfasern - Roman

Zementfasern - Roman

Titel: Zementfasern - Roman
Autoren: Verlag Klaus Wagenbach <Berlin>
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Die Vorfahren hatten ihr Leben damit zugebracht, einen sicheren Fleck Erde zu suchen. Jeder kann auf einen Ahnen zählen, der einen solchen Ort fand und dort seinen Schlupfwinkel baute. Einen Schutzraum, wo man abwarten kann, bis die Zeiten sich bessern, der Wind sich legt, die Luft milder wird, der Sohn erwachsen ist und den Vater pflegen oder ihm die Augen schließen kann. Vielleicht auch einfach einen Zufluchtsort, wo man friedlich einschläft.
    Domenica Orlando, die alle als Mimi kannten, lernte das früh.
    Sie hieß Domenica, weil das eine mächtige Heilige war, gemartert durch wilde Tiere, zum Leben in Bordellen gezwungen, von scharfen Klingen zu Tode gefoltert. Sie wurde mit einem Schwert aus Metall und Licht dargestellt.
    Die Orlando lebten nicht weit von Scorrano, einem Städtchen, das sich alljährlich Anfang Juli zwei Wochen lang einem Fest zu Ehren seiner Schutzpatronin hingab. Es war ein Rausch aus Lichtern, die größte und prächtigste Festbeleuchtung Europas: Unzählige Lichterketten an Giebeln, Pavillons, Fassaden und Spalieren ließen den kleinen Ort von Weitem wie eine Blase aus blendenden Lichtreflexen erscheinen.
    Domenicas Eltern kamen abends mit der letzten
littorina
, einer kleinen Triebwagenbahn, im Ort an und hörten die ganze Nacht lang den Musikkapellen zu, die sich unter Baldachinen aus bunt lackiertem Holz abwechselten. Am Morgen bestiegen sie nach der Messe den Regionalzug Richtung Gagliano, der von Wohlgerüchen erfüllt war, von Süßigkeiten und gezuckerten Mandeln, und geschmückt mit Lavendelblüten und getrockneten Olivenzweigen, und ihre Augen waren vom Fest noch immer geblendet.
    Im Sommer 1960 erlebten die jungen Eheleute Orlando, Antonio und Rosanna, eine besondere, denkwürdige Nacht. Sie warteten darauf, dass die Lichter angezündet wurden, dann spazierten sie die ganze Nacht lang durch den Ort, bis die Glocken den feierlichen Gottesdienst bei Sonnenaufgang einläuteten. In dieser Nacht sprachen sie lange miteinander unter dem Himmel von Scorrano, das künstliche Licht der Bögen und Spaliere zu Ehren der Heiligen erhellte die Umrisse aller Dinge. In einem Garten neben einer
pajara
* machten sie halt, um das Stadttor zu betrachten, die von den Giebeln gezeichneten rechtwinkligen Linien, die dunklen Gestalten der Menschen, die durch die Straßen zogen. Von der Sonne über den Feldern gebräunt und gesalbt von den Lichtern der Heiligen Domenica, schmiegten sie sich mit blitzenden Augen aneinander, Rosanna suchte Antonios Nähe, dann, als sie die Hand auf sein Gesicht legte und ihm mit den Fingerknöcheln über die Wange fuhr, um den dichten Bartwuchs zu spüren, küssten sie sich innig.
    So kam Mimi an.
    * Die
pajara
ist eine typische Bauform in Apulien.
Pajare
wurden von den Bauern aus Trockenmauern errichtet. Sie erinnern an die Trulli.

Manchmal bewegen die Umstände dazu, bestimmten Phasen unseres Lebens eine Überschrift zu geben. Mimi nannte ihre Jugend »die Zeit im Haus aus Glas«.
    Durch eine dünne, mit Kondenswasser beschlagene Fensterscheibe, über die sie gerne mit den Fingerspitzen Striche zog, erblickte sie das Schicksal der kommenden Monate. Ein schwarzgekleideter Mann schritt über die Felder, seine Gummistiefel sanken im Boden ein. Von draußen drang ohrenbetäubend lautes Donnergrollen, das ein Sommergewitter ankündigte. Die Blitze kamen aus der Wolkenwand gegenüber dem Rio, wo die kleinen Äcker der Bauern lagen. Mimi hatte immer in einem von Olivenbäumen und Zichorie umgebenen Häuschen gelebt, aber noch nie hatte sie einen so fahlen Himmel gesehen, einen von Blitzen durchzogenen Himmel, spinnwebfeine Zeichen mit nervös zuckenden Enden, die roten Fäden von Arterien und Muskeln wie in einem Schulbuch der Naturwissenschaften. Als Hagelkörner träge auf das Dach zu schlagen begannen, trat der schwarzgekleidete Mann ins Haus, süßliche Duftschwaden hereintragend, den Geruch der Felder, der an den Kleidern hängenbleibt und sich bei Feuchtigkeit als Duft welker Kirschblüten zersetzt. Es war ihr Vater, der mit ernster Miene ankündigte: »Morgen ist der letzte Schultag, wir gehen in die Schweiz.«
    Mimi hatte schon beschlossen, dass sie auch an diesem Morgen nicht zur Schule gehen würde. Sie hatte niemals hingehen wollen, und auch nur ein letztes Mal dorthin zurückzukehren, erschien ihr unerträglich und ungerecht. Bei Sonnenaufgang würden Vater und Mutter eine Weile auf den Feldern arbeiten, dann würden sie die Oliven zur Ölmühle auf der Piazza
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