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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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bin mir vollkommen sicher.
***
    Ich weiß nicht, wie ich die Zeit bis zu Michaels Rückkehr totschlagen soll. Ich bin so nervös und zittrig, daß ich keine fünf Minuten am selben Fleck sitzen bleiben kann. Also fahre ich zu meiner Mutter nach Kaiserslautern, die beschwert sich sowieso immer, daß ich sie viel zu lange alleine lasse. Es schneit schon den ganzen Tag, und ich brauche zwei Stunden für eine Strecke, die ich sonst in vierzig Minuten zurücklege. Als ich nach drei Tassen Kaffee, zwei fetten Stücken Cremetorte und vielen Klagen darüber, daß auf ihre Kontaktanzeigen keine netten Männer antworten, endlich die Wohnung meiner Mutter verlasse, ist der Wagen mit einer dicken, filzigen Schneehaube bedeckt. Die Straßen, die den Betzenberg hinunter führen, sind nicht geräumt und im nun einsetzenden Frost so glatt, daß ich eine Stunde bis zur Autobahn brauche. Ich rufe zweimal Michaels Handy an, aber das ist weiter abgeschaltet. Als ich um acht Uhr abends endlich zu Hause bin, läutet das Telefon, kaum daß ich zur Tür hinein gehe.
    „Wo bist du denn so lange? Ich hab schon dreimal angerufen. Wie kannst du mir nur eine solche Angst machen?“ Es ist meine Mutter.
    Ich mache mir eine Kanne Tee, setze mich wieder in Michaels Büro und gehe nochmals seine Unterlagen durch. Ich habe ein schlechtes Gefühl dabei. Ich habe ihm noch nie nachspioniert, und ich weiß, daß er so etwas bei mir nicht tun würde. Aber meine Nervosität, die in Wellen an- und abschwillt, läßt sich nur beruhigen, wenn ich in seinem Zimmer nach etwas suche. Irgend etwas muß da sein – ich fühle es, ich weiß nur nicht genau was und wo. Ich durchsuche alle seine Regale, seine Schränke, seinen Schreibtisch, seine Ordner, Hängemappen und Archivboxen, systematisch aber vorsichtig, denn er merkt sofort, wenn irgend etwas auch nur einen Zentimeter verschoben wurde.
    Um ein Uhr morgens öffne ich eine Pappkiste, auf der Projekt V/K steht. Mir fallen Zeitungsausschnitte, Stadtpläne, Fotos, Ausdrucke von Internetseiten und Fahrpläne von Bussen und S-Bahnen entgegen. Die Ausschnitte stammen alle von Münchner Zeitungen, in denen über den Tod von Andrea Zitzelsberger berichtet wird. In Klarsichthüllen sind zwanzig oder dreißig Fotos eines großen Hauses mit einem halbrunden Balkon zu sehen, der von griechischen Säulen begrenzt ist. Es gibt weitere Fotos der Straße vor dem Haus und der Umgebung desselben Hauses. Die Fotos sind aus verschiedenen Blickwinkeln mit unterschiedlichen Objektiven aufgenommen, vom extremen Weitwinkel bis zu Zoomaufnahmen mit unterschiedlichen Telebrennweiten ist alles dabei. Auf einem Stadtplan ist eine Straße in München-Bogenhausen farbig markiert. Irgend jemand hat rote Pfeile eingezeichnet, die auf das „S“ zeigen, das die Prinzregentenstraße da bildet, wo sie sich um den Friedensengel schlängelt. Von der Kreuzung Cuvilliesstraße-Herschelstraße ist mit dem Lineal eine gerade Linie zum Hausenstein-Weg gezogen, daneben hat jemand 5-9 Min. geschrieben. Es ist eindeutig Michaels Handschrift. Ich kenne weder das Haus noch seine Umgebung, aber eine Ahnung sagt mir, daß Nicolais Verteidigerin in diesem Haus gewohnt hat. Zweihundert Meter von der Stelle, wo der Hausenstein-Weg unter der Tivoli-Brücke durchführt, ist Andrea Zitzelsberger tot aufgefunden worden . Joggen ist eben doch nicht so gesund , fällt mir wieder ein. Er hat also immer gewußt, daß sie tot ist.
    Ich hole mir eine Flasche Portwein aus der Bar im Wohnzimmer und gehe zurück ins Büro. Es gibt noch drei andere Pappboxen, auf denen Projekt V/N , steht. In der zweiten Box finde ich drei Stadtpläne, einen von Leipzig, einen von Zeitz und einen dritten von einem Ort namens Geußnitz. Wieder in einer Klarsichthülle befinden sich Fotos in den Perspektiven, die mir nun schon bekannt sind. Dieses Mal ist auf den Bildern kein mehrstöckiges altes Haus in einer Stadt zu sehen, sondern eine moderne Doppelhaushälfte, die am Ortsrand praktisch auf freiem Feld steht. Das Haus muß neu gebaut sein, denn in der Garageneinfahrt liegt ein Sandhaufen und daneben steht eine Betonmischmaschine. In einer separaten Pappschachtel liegen, von Gummibändern zusammengehalten, sämtliche Bücher Nicolais; einige sind von Hand signiert. Kann diese Kleinkinderschrift Nicolais Handschrift sein? Und wenn sie es ist: bedeutet das dann, daß Michael Nicolai persönlich getroffen hat, bei Lesungen, nach Theateraufführungen? Oder wo und wie genau? Ich verstehe gar
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