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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Rückkehr erzählte er mir von einem Kunden, der in Leipzig einen Häuserblock aus Plattenbauten gekauft hatte. Bei dieser Gelegenheit kündigte er an, daß er in Zukunft öfter nach Leipzig fahren werde, um die Leipziger Wohngenossenschaft in die Saarbrücker Mutterfirma zu integrieren. Das klang plausibel. Wirtschaftsprüfer tun so etwas. Ich schöpfte also keinen Verdacht, als Michael im Sommer drei oder viermal nach Leipzig reiste und jedesmal mit Kisten voller Ordner zurückkehrte. Im Dezember 2002 wollte er schließlich zum letzten Mal nach Leipzig fahren, um die Angelegenheit abzuschließen.
    Als er mir das erzählte, waren alle meine Zweifel auf einen Schlag geweckt.
    „Du hast doch noch nie im Dezember einen Konzernabschluß gemacht. Ständig bist du in Leipzig, und alles nur wegen dieser Immobilienklitsche.“
    Selbstverständlich hatte er eine Erklärung parat. „Was heißt, ich hab noch nie einen Abschluß im Dezember gemacht? Die haben ein Rumpfjahr, das ist doch ganz normal.“
    Und außerdem hätte er noch nie mit einer DDR-Wohnbaugenossenschaft was zu tun gehabt, das sei viel Arbeit, er wäre nicht mehr der alte, so was dauere. Aber zwei Tage noch, und dann sei er fertig.
    „Und bei dem Wetter“, sagte er, zog die Vorhänge zurück und schaute in den Regen hinaus, „kann man doch sowieso nichts anderes tun als arbeiten.“
    „Die haben Schnee angekündigt. Und da willst du so weit fahren?“
    „Der Wagen hat Allradantrieb.“
    „Fahr doch mit der Bahn.“
    Er schüttelte den Kopf und lächelte beruhigend. „Ingrid, ich muß kistenweise Ordner mitnehmen.“
    Er hatte tatsächlich im Keller Kisten abgestellt, auf denen Leipzig stand.
    „In welchem Hotel bist du denn?“
    „Keine Ahnung. Das haben die in Leipzig gebucht. Ich ruf dich vom Hotel aus an.“
    Als ich am Donnerstag nachmittag nach Hause kam, lag ein altes Schwarzweißfoto auf dem Küchentisch, das ich noch nie gesehen hatte. Auf dem Foto war Michael als kleiner Junge dabei zu sehen, wie er seinem Vater einen Ball zuwarf. Michael muß vier oder fünf Jahre alt gewesen sein, als das Bild aufgenommen worden war. Sein Vater, den ich nur mit Glatze und Bauch kannte, hatte noch einen vollen Haarschopf und sah erstaunlich schlank und jugendlich aus. Ich war überrascht, wie ähnlich Michael Florian sah, als der vier oder fünf Jahre alt gewesen war.
***
    Am Donnerstag abend schaute ich mir Nachrichten und Wetterbericht an. Der am Vortag angekündigte atlantische Tiefausläufer hatte sich zu einer Sturmfront ausgeweitet, die in ganz Deutschland überfrierende Nässe und Schneestürme bringen sollte. Für den gesamten Osten und für Bayern war mit starken Schneefällen und Verkehrsbehinderungen zu rechnen. Auf einem Autobahnparkplatz hinter Kaiserslautern waren ein Mann und ein Hund tot im Schnee gefunden worden. Ich wählte Michaels Handynummer, aber das Handy war abgeschaltet. Ich versuchte es alle halbe Stunde bis Mitternacht und sprach zweimal auf seine Mailbox, aber er rief nicht zurück.
    Ich konnte lange nicht einschlafen. Der Wind heulte ums Haus und rauschte in den Bäumen im Wald. Binnen einer Stunde fiel die Temperatur um fünf Grad. Der Schneeregen ging um Mitternacht in einen heftigen Schneesturm über. Einmal stand ich auf, um die Fensterläden im Erdgeschoß zu schließen. Schwere, klebrige Flocken wirbelten schräg gegen die Garage. Der Boden war bereits überall bedeckt.
    Als ich wieder im Bett lag, starrte ich in das Dunkel und dachte über das heutige Datum nach. Was war an diesem Datum merkwürdig? Es war die Nacht vom vierten auf den fünften Dezember 2002. Und plötzlich wußte ich es: Die Zitzelsberger war vor vier Jahren genau an diesem Tag gestorben. Aber das konnte ein Zufall sein, das mußte ein Zufall sein. Wir hatten nie mehr über sie gesprochen. Die Gedanken rasten durch meinen Kopf, an Schlaf war nicht mehr zu denken. Ich fühlte, daß es eine Verbindung zwischen dem vierten Dezember 1998 und dem heutigen Tag gab – nur welche? Michael befindet sich auf den Tag genau vier Jahre nach dem Tod der Zitzelsberger in Leipzig, aber was hat die Zitzelsberger mit Leipzig zu tun?
    Ich steige aus dem Bett und ziehe mich wieder an. Ich gehe in die Küche hinunter und lasse Kaffee durch die Maschine laufen. Ich kann meine Gedanken noch in keine logische Ordnung bringen, aber ich spüre, daß ich auf einer Spur bin. Die Verbindung ist Leipzig. Nicolai stammt aus Leipzig oder doch aus der Nähe von Leipzig, Andrea
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