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Die in der Hölle sind immer die anderen

Die in der Hölle sind immer die anderen

Titel: Die in der Hölle sind immer die anderen
Autoren: Thomas Walker Jefferson
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Zitzelsberger ist seine Frau gewesen. Und jetzt ist Michael in Leipzig, im Auftrag eines Mandanten und …? Nein, das ist Unsinn, da gibt es keine Verbindung, die Zitzelsberger ist längst tot, und wo Nicolai jetzt lebt, weiß keiner, zumindest ich nicht, auf jeden Fall nicht in Leipzig, wo sein verhaßter Stiefvater heute im Landtag sitzt. Da schießt mir ein Gedanke durch den Kopf: Heute vor vier Jahren, als die Zitzelsberger starb – wo war Michael da eigentlich? Diese Frage habe ich mir noch nie gestellt. Ich überlege. Das läßt sich herausfinden, Michael ist ein systematischer Mensch. Er verwendet in Leder gebundene Terminplaner, einen für jedes Jahr, seit Jahrzehnten führt er sie, kleine, schwarze Kalender, jeder Termin ist da eingetragen.
    Der Sturm heult immer stärker ums Haus, der Wind rüttelt an den Klappläden, irgendwo schlägt ein offenes Fenster gegen den Rahmen, der Dachstuhl stöhnt, die Schindeln klirren. Ob Michael überhaupt bis nach Leipzig gekommen ist? Im Erdgeschoß schalte ich in allen Räumen die Lichter an. Ich gehe in Michaels Büro und suche nach den Terminkalendern. Ich brauche nicht lange zu suchen: in einer Archivbox aus Pappe stehen sie in seinem Aktenschrank. Jeder Kalender ist fein säuberlich mit Rückenschildern beklebt. Ich blättere durch den Kalender des Jahres 1998. Mein Zeigefinger läuft über die Tage und Wochen; ich hoffe, daß ich nichts finde. Er reist ja kaum mehr, seit er die neue Firma hat, er war doch immer zu Hause. Aber nicht am vierten Dezember 1998. Dr. Fesenmeier, Augsburg steht da, zweiter bis vierter Dezember 1998 . Der Name sagt mir nichts, und ich kann mich auch an keinen Kunden in Augsburg erinnern, aber ich kenne nicht alle seine Geschäftskontakte. Eines jedoch ist klar: Er war nicht in Saarbrücken. Er war in Augsburg, und Augsburg liegt nicht weit von München entfernt. Mein Atem geht plötzlich schneller, meine Hände zittern. In der Nacht, als die Zitzelsberger gestorben ist, war Michael also keine Autostunde von ihr entfernt. Ich rufe nochmal sein Handy an, und wie immer antwortet nur die Mailbox. Ich nehme die Thermoskanne mit dem Kaffee mit in sein Büro und mache es mir auf seiner Ledercouch bequem. Ich wühle in seinen Unterlagen bis um drei Uhr früh.
    Am nächsten Morgen rufe ich den jungen Steuerberater an, den Michael vor einem Jahr angestellt hat. Ob er weiß, zu welchem Mandanten Michael gefahren ist.
    „Zur Sommerfeldt-Stiftung“, sagt er, „nach Rimpar.“
    „Nach Rimpar? Wo ist denn Rimpar?“
    „Bei Würzburg.“
    „Ist er nicht in Leipzig?“
    „In Leipzig?“ Man könnte glauben, er hätte den Namen der Stadt zum ersten Mal in seinem Leben gehört, so verwundert hört er sich an. „Ach so, Sie meinen wegen der Geschichte mit der Wohnbaugenossenschaft? Der Abschluß ist doch schon seit Wochen fertig.“
    Ich setze mich und fühle mein Herz in der Brust rasen, der Pulsschlag hämmert in meinen Ohren. Michael hat mich angelogen – aber warum? Wegen einer anderen Frau? Das wäre mir egal, und das weiß er auch; deswegen würde er sich nicht die Mühe machen, extra einen Kunden für mich zu erfinden. Aber warum dann? Und wo ist er jetzt gerade? In Leipzig oder in Würzburg oder ganz woanders? Warum rege ich mich eigentlich so auf? Habe ich um Michael Angst? Oder fürchte ich mich vor der nächsten Katastrophe, die auf unser Leben zurollt?
    Nach dem Frühstück rufe ich im Büro an und sage Bescheid, daß ich heute nicht zur Arbeit erscheine, was bei dem Wetter und dem Verkehrschaos keinen wundert. Und da kommt mir eine Idee: Der vierte Dezember ist nicht irgendein Tag, sondern ein ganz besonderer und zwar in astronomischer Hinsicht. Ich gehe ins Wohnzimmer und ziehe meinen alten Astronomie-Atlas aus dem Bücherregal. Ich muß nicht lange blättern, bis ich die Tabelle mit den Mondphasen finde. Und da steht es: Der vierte Dezember ist Neumond, der einzige Tag im Dezember, an dem der Mond überhaupt nicht zu sehen ist. Wenn man dann noch berücksichtigt, daß es nicht mehr lange bis zur Wintersonnwende ist, dann ist die Nacht vom vierten auf den fünften Dezember eine der dunkelsten und längsten des ganzen Jahres. Und in genau dieser Nacht ist die Zitzelsberger gestorben. Beim Joggen, im Freien und bei Einbruch der Nacht. Und heute ist wieder so eine Nacht, und er ist wieder nicht zu Hause. Und in diesem Moment spüre ich es, nein ich weiß es: Gestern Nacht ist wieder jemand gestorben. Und Michael hat etwas damit zu tun. Ich
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