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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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alle betreffen. So sind etwa Beruhigungsmittel, die Angstgefühle reduzieren, sehr weit verbreitet. Angstgefühle können aber durchaus berechtigt sein! Begegnet uns auf der Straße eine verdächtig wirkende Person, so wäre es normal und sinnvoll, ängstlich und wachsam zu werden. Der kleine Adrenalinschub, der das bewirkt, hat sich in Hunderttausenden Jahren Evolution bewährt. Wenn man allerdings Beruhigungsmittel nimmt, um Angstgefühle zu unterdrücken, bleibt die erhöhte Wachsamkeit angesichts einer potenziellen Gefahr aus. Das Überwachungssystem ist ausgetrickst worden und schickt dem Interpreten unzutreffende Informationen. Man wird dann nicht ängstlich, und der Interpret stuft die Situation als ungefährlich ein, was zu Unachtsamkeit führt. Es gibt Vermutungen, dass der zunehmende Gebrauch bzw. die Einnahme solcher Medikamente in New York City zur gestiegenen Häufigkeit von Straßenraubdelikten beiträgt und die erhöhte Inanspruchnahme von Notaufnahmen verursacht hat.
    Manchmal ist es aber auch kein Beruhigungsmittel, das unseren Flucht-oder-Kampf-Reflex lahmlegt, sondern unser Interpret selbst, der die Situation herunterspielt und Warnsignale ignoriert: »Nur die Ruhe, es ist bloß ein harmloser Obdachloser.«
    Vilayanur Ramachandran vermutete, dass verschiedene Verteidigungsmechanismen daher rühren, dass das Gehirn jeweils zuerst die plausibelste und insgesamt schlüssigste Interpretation aus den verschiedenen Quellen herstellt. Danach ignoriert und unterdrückt das Gehirn alles, was hierzu im Widerspruch steht. Beispiele für solche Verteidigungsmechanismen sind, sich selbst etwas vorzumachen oder Unerwünschtes zu unterdrücken. Ramachandrans Vermutung stimmt mit unserem Versuchsergebnis überein, dass die linke Hemisphäre der Strategie der Häufigkeitsanpassung folgt und ähnliche, aber in Wahrheit neue Reize als »dieselben« wie die bereits gesehenen klassifiziert. Sie verschafft sich einen Überblick über die Lage, versucht ein Muster darin zu sehen und stellt eine plausible Interpretation zusammen. Ramachandran vermutete weiter, dass es im rechten Scheitellappen einen sogenannten Anomalie-Detektor gebe, der Alarm schlägt, wenn die Diskrepanzen zu den Fakten zu groß werden. Dann greift die rechte Hirnhälfte ein, die alles wörtlich nimmt. Das würde die Beobachtung erklären, dass Patienten mit Läsionen des rechten Scheitellappens mitunter solche absurden, völlig wirklichkeitsfremden Geschichten erzählen. Diese bizarren Märchengeschichten kommen aus der linken Hirnhälfte, die nicht mehr vom Anomalie-Detektor der rechten gebremst wird. Patienten mit Schädigungen der linken Hirnhälfte zeigen dieses Verhalten nicht, denn bei ihnen ist die rechte Hälfte, diese absolut akkurate und pedantische Hemisphäre voll funktionsfähig. Viele Patienten mit Läsionen des linken Stirnlappens können sich selbst nichts mehr vormachen und werden in der Folge oft depressiv. Stellen Sie sich nur vor, Sie könnten keine Rechtfertigung mehr finden, diesen Schokoladenkuchen doch zu essen!
ICH TRAUE MEINEN AUGEN NICHT!
    Bei seiner Arbeit von einem Moment zum anderen (und wieder weiter zum nächsten) ist der Interpret jeweils mit dem wechselnden Input von Hirngebieten beschäftigt, die gerade aktiviert werden. Während er der menschlichsten aller Beschäftigungen nachging, nämlich ständig nach Erklärungen und Ursachen zu suchen, fragte sich Isaac Newton unter dem Apfelbaum: »Warum ist der Apfel nach unten gefallen? Hmmm … er ist ja nicht gestoßen worden. Und warum steigt er eigentlich nicht nach oben?« Newton war mit zwei unterschiedlichen Erklärungsprozessen für Kausalität beschäftigt. Wie wir herausgefunden haben, spielt sich einer in der rechten und der andere in der linken Hemisphäre ab. Der belgische Experimentalpsychologe Albert Michotte hat mit dem als Michottesche Bälle bekannten Experiment das berühmteste Beispiel für Wahrnehmung von Grund und Folge, also der Kausalität, geschaffen. Zeigt man Versuchspersonen auf einem Bildschirm einen grünen Ball, der sich auf einen roten zubewegt und bei Kontakt anhält, und der rote Ball beginnt sich nun wegzubewegen, dann nehmen das die meisten so wahr, als ob der grüne Ball den roten angestoßen und seine Bewegung verursacht habe. Das ist Kausalitätswahrnehmung: die direkte Wahrnehmung – in diesem Fall durch Beobachtung –, dass ein bestimmtes Ereignis als Folge physikalischen Kontakts eintrat. Gibt es zwischen dem Kontakt der beiden
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