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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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andere abgibt, wenn die andere auf die gestellte Aufgabe spezialisiert ist. 10 Der Maßstab für die Entscheidung ist dabei jeweils einfach die höhere Reaktionsgeschwindigkeit.
    Einige der Spezialisierungen der rechten Hirnhälfte umfassen auch visuelle Prozesse. Paul Corballis, der in unserem Labor mit Split-Brain-Patienten arbeitete, vermutete, dass die rechte Hirnhälfte einen visuellen Interpreten habe. Dieser sei speziell darauf ausgelegt, die Mehrdeutigkeiten des räumlichen Sehens aufzulösen, die sich unvermeidlich bei der dreidimensionalen Interpretation eines zweidimensionalen Bildes ergeben. In seinem Handbuch der physiologischen Optik von 1867 hatte Hermann von Helmholtz als Erster postuliert, dass wir unser dreidimensionales Weltbild schaffen, indem wir aus dem zweidimensionalen Bild, das auf der Netzhaut entsteht, unbewusst Schlüsse auf die räumliche Situation des Gesehenen ziehen. Seine revolutionäre Idee war, dass Wahrnehmung als kognitiver Prozess nicht nur die Informationen der Netzhaut verarbeitet, sondern auch die Erfahrungen und Ziele des Empfängers. Corballis betont nun, wie viel Verständnis nötig ist, um aus dem Netzhautbild eine zutreffende Darstellung der Außenwelt zu schaffen, und vermutet, dass dies ein »Interpret« in der rechten (!) Hirnhälfte bewerkstelligt. 11
    Zur Auflösung der Rätsel um die visuelle Wahrnehmung hat neben der Forschung über optische Täuschungen – nicht jede optische Illusion täuscht beide Hemisphären – auch das bessere Verständnis der Rolle jeder der beiden Hirnhälften bei der optischen Wahrnehmung beigetragen. Corballis und seine Kollegen fanden heraus, dass zwar beide Hirnhälften auf den unteren Ebenen der optischen Reizverarbeitung die gleichen Fähigkeiten haben (sie fallen zum Beispiel beide auf vorgetäuschte Konturen herein, wenn also in einer optischen Täuschung Konturen wahrgenommen werden, obwohl keine Grenzlinie und weder eine Helligkeits- noch eine Farbänderung zu sehen ist), 12 die rechte Hemisphäre aber der linken bei verschiedenen Aufgaben überlegen ist, die mit höheren Verarbeitungsprozessen zu tun haben. Der rechten Hirnhälfte fällt die räumliche Orientierung leichter (zum Beispiel bei der Beurteilung, ob zwei Bilder identisch oder spiegelverkehrt zueinander sind, ob es Unterschiede in der Ausrichtung von Linien gibt 13 und beim gedanklichen Drehen von Gegenständen 14 ), während die linke Hemisphäre ziemlich schlecht abschneidet. Auch bei der Einschätzung von Zeiträumen ist die rechte Hirnhälfte besser, so bei der Beurteilung, ob zwei Bilder gleich lange auf einem Bildschirm zu sehen sind. 15 Außerdem kann die rechte Hemisphäre sehr gut Wahrnehmungen gruppieren. Wenn man der rechten Hirnhälfte beispielsweise unvollständig gezeichnete Figuren zeigt, kann sie diese leicht vervollständigen, aber die linke Hälfte braucht dazu die fast vollständige Figur. Ein anderes Beispiel ist die vorgetäuschte Bewegung einer Linie. Gemeint ist, wenn eine Linie vollständig und auf einmal gezeigt wird, es aber dem Betrachter so erscheint, als dehne sie sich von einem Endpunkt her aus. Diese Illusion kann sowohl auf niedriger wie auf höherer Ebene der visuellen Verarbeitung erzeugt werden. Wenn an einem Ende ein Punkt erscheint, kurz bevor die Linie selbst auftaucht, scheint sie sich von diesem Punkt auszudehnen. 16 Diese Täuschung findet auf niedriger Ebene statt, und beide Hemisphären werden getäuscht. Wenn die Linie aber zwischen zwei Punkten unterschiedlicher Farbe oder Größe auftaucht, dann scheint sie sich von dem Punkt auszudehnen, der zu ihr passt. 17 Diese Täuschung findet auf einer höheren Ebene statt; und diese Illusion wird nur von der rechten Hemisphäre gesehen. 18
    Wenn die rechte Hirnhälfte komplexe Muster so gut wahrnehmen und diese Wahrnehmung automatisieren kann, dann, so überlegten wir uns, würden wir die Fähigkeiten der rechten Hirnhälfte vielleicht besonders gut bei Schachgroßmeistern beobachten könnten. Schachspieler sind schon oft Objekt der Kognitionspsychologie gewesen, beginnend in den 1940er Jahren mit den Studien Adriaan de Groots, der nicht nur Psychologe, sondern selbst Schachspieler war. Der Internationale Großmeister und zweimalige US-Schachmeister Patrick Wolff, der mit 20 Jahren den Schachweltmeister Garri Kasparov in 25 Zügen matt gesetzt hatte, kam in unser Labor. Wir ließen ihn fünf Sekunden lang ein Schachbrett betrachten, auf dem eine spieltechnisch mögliche Stellung
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