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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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aufgebaut war, und baten ihn, sie aus dem Gedächtnis nachzustellen. Er schaffte es schnell und fast fehlerlos (25 von 27 Figuren standen auf den richtigen Feldern). Wenn Sie oder ich das versuchten, könnten wir, selbst als geübte Schachspieler, nur etwa fünf Figuren richtig aufstellen. Es blieb allerdings die Frage, ob Wolffs Fähigkeit nur auf einem sehr guten optischen Gedächtnis beruhte. In diesem Fall sollte es keine Rolle spielen, ob die Stellung, die er nachbaute, spieltechnisch möglich war oder nicht. Daraufhin gaben wir ihm auf demselben Schachbrett mit derselben Zahl Figuren eine Stellung vor, die nach den Regeln nicht zustande kommen konnte. Als er die nachstellte, hatte er nur noch wenige Figuren richtig, nicht mehr als ein Nicht-Schachspieler. Seine ursprüngliche Treffsicherheit kam dadurch zustande, dass seine rechte Hirnhälfte automatisch Muster verglich, die sie in vielen Jahren des Schachspiels gelernt hatte.
    Als Neurowissenschaftler wussten wir also, dass Wolffs Wahrnehmungsmechanismus in der rechten Hirnhälfte codiert und automatisch ablief und dies die Quelle seiner besonderen Fähigkeit war. Er selbst wusste das allerdings nicht. Als wir ihn danach fragten, mühte sich sein Interpretier-Modul in der linken Hirnhälfte um eine Erklärung. »Das geht, indem man versucht … schnell zu verstehen versucht, was sich abspielt, und natürlich fasst man immer zusammen, ja? Ich meine, diese Bauern sind natürlich, eben … aber, aber es … ich meine, man fasst normalerweise ja zusammen, so wie … Ich meine, für jemand anderen sieht es vielleicht wie eine Art Struktur aus, aber ich würde sagen, es ist mehr, mit den ganzen Bauern so aufgestellt …«
    Der Interpret ist nur so gut wie die Informationen, die er bekommt. Er empfängt die Ergebnisse der Berechnungen zahlreicher Module, nicht die Information, dass es zahlreiche Module gibt, wie sie funktionieren oder dass es in der rechten Hemisphäre ein Mustererkennungssystem gibt. Der Interpret ist ein Modul, das Geschehnisse aus den Informationen erklärt, die es erhält. In Patrick Wolffs Fall empfing es die Informationen, dass er eine Schachstellung auf einen Blick erfassen und nachbauen kann und sehr gut Schach spielen kann – und mit diesen Informationen versuchte Wolff sein Schachtalent zu erklären.
DER INTERPRET WIRD AUSGETRICKST
    Diese Vorstellung, dass der Interpret nur so gut sein kann wie die Daten, die er erhält, spielt eine entscheidende Rolle bei der Erklärung vieler scheinbar rätselhafter Funktionsweisen des Gehirns, ob bei Gesunden oder bei Neurologie-Patienten. Man kann den Interpreten regelrecht überrumpeln, indem man ihn mit unzutreffenden Daten speist. Dadurch erzeugt er dann eine veränderte Geschichte. Für unseren Interpreten ist die Realität also möglicherweise virtuell; sie hängt von den Sinneseindrücken ab, die er hier und jetzt empfängt.
    Wenn Sie mit Ihrem intakten und gesunden Gehirn zum Beispiel in ein Labor zur Erforschung virtueller Realität gingen, würde Ihnen auffallen, dass es sich um einen großen leeren Raum mit ebenem Betonboden handelt. Das ist Ihre gegenwärtige Realität. Dann setzen Sie sich die Projektionsbrille auf, die von jemandem kontrolliert wird, der in der Ecke an einem Rechner sitzt und gerne ein paar Spielchen mit Ihnen machen möchte. Sie laufen los, und plötzlich taucht vor Ihnen ein tiefer, klaffender Abgrund auf. Argh! Sie bekommen einen Adrenalinschub. Ihr Herz rast und Sie springen zurück. Sie hören Gelächter. Dann erscheint plötzlich eine schmale Planke, die über den Abgrund führt, und Sie werden gebeten, sie zu überqueren. Wenn es Ihnen wie mir geht, lehnen Sie entsetzt ab. Wenn Sie wagemutig sind, werden Sie mit balancierend ausgestreckten Armen sehr langsam, mit hämmerndem Herzen und angespannten Muskeln über die Planke gehen. Natürlich lachen die anderen im Labor nur noch mehr, weil Sie ja die ganze Zeit auf dem flachen Betonboden bleiben. Obwohl Sie es auch wissen, wird Ihr gesunder Menschenverstand von den einlaufenden Sinnesreizen überrumpelt. Ihre Interpretation der Welt wird unmittelbar von den visuellen Reizen bestimmt, die das Wissen Ihres Bewusstseins förmlich überrollen.
    Der Interpret empfängt Daten aus den Bereichen, die die visuelle Wahrnehmung, das somatosensorische System, die Emotionen und die kognitiven Vorstellungen überwachen. Aber wie wir gesehen haben, ist der Interpret nur so gut wie die Information, die er empfängt. Verletzungen
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