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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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oder Fehlfunktionen in einem dieser Überwachungssysteme führen zu spezifischen neurologischen Störungen, unter anderem zu entweder unvollständigen oder vorgetäuschten Auffassungen über uns selbst, andere Menschen, Gegenstände und die Umgebung – das resultiert für gewöhnlich in bizarrem Verhalten. Diese Verhaltensweisen erscheinen allerdings dann nicht mehr bizarr, wenn man erkannt hat, dass sie einfach nur dadurch zustande kommen, dass der Interpret keine oder falsche Informationen empfängt. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, was geschieht, wenn es zu einer Läsion im Hirnareal kommt, das einen Teil des Gesichtssinns überwacht. Eine Schädigung im Hirnareal für die Somatosensorik, also die Eigenwahrnehmung des Körpers, kann zum sogenannten Syndrom der Anosognosie führen. Wer daran leidet, erkennt die eigene gelähmte linke Hand nicht mehr als Teil des eigenen Körpers. Vilayanur Ramachandran führte folgendes Gespräch mit einer betroffenen Patientin:
    Patientin  [zeigt auf ihre linke Hand]:
    Doktor, wessen Hand ist das?
    Doktor: Was glauben Sie denn?
    Patientin: Also, Ihre ist es nicht!
    Doktor: Wessen Hand ist es also?
    Patientin: Meine ist es auch nicht.
    Doktor: Wessen Hand, glauben Sie, ist es?
    Patientin: Die Hand meines Sohnes, Doktor. 19
    Der Scheitellappen des Cortex holt ständig Informationen über die Position des Arms im dreidimensionalen Raum ein und überwacht auch die Existenz des Arms im Verhältnis zu allem anderen.
    Wenn die Empfindungsnerven im peripheren Nervensystem eine Schädigung erleiden, wird der Informationsfluss zum Gehirn unterbrochen. Das Überwachungssystem empfängt keine Informationen über die Lage des Arms, was er in der Hand hält, ob er Schmerzen hat, Hitze oder Kälte spürt oder sich bewegen kann. Das Überwachungssystem schlägt Alarm: »Ich kriege keine Informationen mehr! Wo ist die linke Hand?« Aber wenn die Läsion im Scheitellappen selbst auftritt, dann funktioniert die Überwachung selbst nicht mehr und es wird kein Alarm ausgelöst, weil die Alarmanlage defekt ist. Ein Patient mit einer Störung im rechten Scheitellappen verliert einen Teil der Wahrnehmung seiner linken Körperhälfte, und zwar vollständig und spurlos, weil es kein Hirnareal mehr gibt, das dem Interpreten über den Zustand dieses Bereichs berichtet. Für diese Patienten hört die linke Körperhälfte buchstäblich auf zu existieren. Wenn der Neurologe der oben zitierten Patientin ihre Hand vor das Gesicht hält, erreicht den Interpreten dieser Patientin keine somatosensorische Information. Entsprechend gibt sie die daraus folgende Antwort: »Es ist nicht meine Hand.« Der Interpret, der ganz normal funktioniert, empfängt vom Scheitellappen keine Information über eine linke Hand, also kann es nicht ihre sein. So gesehen wirken die sonderbaren Behauptungen der Patientin fast vernünftig.
    Eine weitere absonderliche Störung ist das sogenannte Capgras-Syndrom, bei dem eine Störung in dem Hirnareal auftritt, das die Emotionen überwacht. Diese Patienten erkennen zwar enge Verwandte als solche, bestehen aber darauf, dass es sich um einen identisch aussehenden Doppelgänger, wahrscheinlich einen Hochstapler, handeln müsse. Ein anderer Patient Ramachandrans sagte über seinen Vater: »Er sieht genau wie mein Vater aus, kann es aber nicht sein. Das ist ein netter Kerl, aber nicht mein Vater, Doktor.« Als er gefragt wurde, warum der Mann vorgebe, sein Vater zu sein, erwiderte der Patient: »Das ist ja das Seltsame – warum sollte das irgendjemand vortäuschen wollen? Vielleicht hat ihn mein Vater angeheuert, damit er sich um mich kümmert; vielleicht bekommt er Geld von ihm, damit er meine Rechnungen bezahlen kann …« 20 Bei dieser Störung sind die Gefühle für einen Verwandten oder Bekannten vom Erkennen dieser Person getrennt. 21 Der Patient verspürt keine Emotion, wenn er die betreffende Person erkennt, wie sich aus dem Hautwiderstand ergibt. Der Interpret muss diese Erscheinung erklären. Einerseits gibt ihm das Modul für Gesichtserkennung die Information: »Das ist Dad.« Die entsprechende emotionale Information bleibt allerdings aus, und dafür muss es einen Grund geben. Dem Interpreten fällt nur ein logischer Schluss ein: »Das kann nicht wirklich Dad sein, denn dann würde ich ja etwas empfinden. Also ist das ein Hochstapler.«
    Solche extremen Beispiele eines überrumpelten Interpretier-Systems mögen zwar faszinierend sein. Es gibt jedoch auch Beispiele, die uns
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