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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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erkennen wir die Integration voneinander abweichender Verhaltensweisen in einen wie auch immer schlüssigen Zusammenhang. Aus dem Chaos entstand Ordnung. Dadurch wurden Aktionen der rechten Hirnhälfte in den Bewusstseinsstrom der linken integriert.
    Bei einem anderen Versuch zeigten wir der rechten Hemisphäre das Bild eines Spielzeugautos. Die rechte Hirnhälfte erzeugte das Wort Spielzeug. In der folgenden Unterhaltung mit dem Patienten hat seine linke Hirnhälfte, die das Bild nicht gesehen hat, große Mühe zu erklären, warum er »Spielzeug« gesagt hat:
    VL: Warum denken Sie an Spielzeug?
    P: Ich weiß nicht, es fiel mir gerade so ein. Es war das Erste, was mir in den Sinn kam.
    VL: Sieht es wie ein Spielzeug aus?
    P: Ja, schon. Es ist, als ob es mir eine innere Stimme sagt.
    VL: Wie oft gehen Sie nach Ihrer inneren Stimme und wie oft danach, wie etwas aussieht?
    P: Wenn ich zuerst nicht sehe, wie etwas aussieht, wenn ich gleich sagen soll, was es ist, dann gehe ich einfach nach … ja, nach dem, was mir zuerst einfällt.
    Diese ziemlich deutlichen Beispiele zeigten uns, dass unser kognitives System kein einheitliches Netzwerk mit einem einzigen Ziel und einem einzigen Gedankengang ist.
WAS BEDEUTET DAS FÜRS GROSSE GANZE?
    Die Neurowissenschaft geht heute davon aus, dass das Bewusstsein kein einheitlicher, umfassender Prozess ist. Vielmehr wird immer deutlicher, dass zum Bewusstsein zahlreiche verteilte und spezialisierte Systeme und getrennte, uneinheitliche Prozesse gehören. 24 Die Ergebnisse dieser Systeme werden in einem dynamischen Prozess vom Interpretier-Modul miteinander in Zusammenhang gebracht. Das Bewusstsein ist ständig im Fluss. Daher wird es auch über seine sogenannte emergent property (emergente Eigenschaft) beschrieben. In jedem beliebigen Moment wetteifern verschiedene Module oder Systeme um die Aufmerksamkeit, und der Gewinner dieses Spiels prägt jeweils das bewusste Erleben des jeweiligen Augenblicks. Unser Bewusstsein wird ständig neu zusammengebastelt, während unser Gehirn auf ständig wechselnde Informationen reagiert, mögliche Reaktionen berechnet und ausführt.
    Kommen wir also zur Frage am Anfang dieses Kapitels zurück: Wieso haben wir dieses überwältigende, fast selbstverständliche Gefühl, dass wir einheitlich seien, über ein »Ich« verfügten, während wir aus einer Myriade Modulen bestehen? Wir erleben kein tausendfaches Stimmengewirr im Gehirn, sondern ein einheitliches Bewusstsein, das leicht und natürlich von einem Moment zum anderen fortschreitet und einen einheitlichen, kohärenten Strom bildet. Diese psychische Einheit stammt von einem spezialisierten System, dem sogenannten Interpreten, der unsere Wahrnehmungen, Erinnerungen und Handlungen sowie die Beziehungen zwischen allen diesen erklärt. 25 So entsteht unser je eigener persönlicher Bewusstseinsstrom. Diese fortlaufend erzählte Geschichte, ja, dieses Fabulieren, das alle disparaten Bestandteile unseres bewussten Erlebens zu einem zusammenhängenden Ganzen umformt, schafft Ordnung aus dem Chaos. Das Interpretier-Modul scheint spezifisch menschlich zu sein und ist nur in der linken Hirnhälfte lokalisiert. Sein Drang, Hypothesen aufzustellen, ist der Auslöser menschlicher Annahmen, die wiederum unser Gehirn steuern und einschränken.
    Die Baukasten-Natur unseres Bewusstseins ist für uns nicht wahrnehmbar. Dass es ein erklärendes System gibt, können wir nur beobachten, wenn man dieses System mit Tricks und kontrolliertem Input dazu bringt, klare Fehler zu machen. Das ist am offensichtlichsten bei Split-Brain-Patienten oder Patienten mit Läsionen des Gehirns zu sehen, aber auch bei normalen Menschen, denen fehlerhafte Informationen gegeben werden. Selbst das geschädigte Gehirn lässt uns aber immer noch das Gefühl eines einheitlichen Ichs erleben. Wir haben von unseren Split-Brain-Patienten gelernt, dass selbst dann, wenn die linke Hirnhälfte sich der Prozesse in der rechten nicht mehr bewusst ist (und umgekehrt), die Hirnhälften einander nicht fehlen. Es ist, als ob wir das, wozu wir keinen Zugang mehr haben, auch nicht mehr vermissen. Das emergente Bewusstsein des Einzelnen entsteht aus getrennten Systemen im Gehirn, und wenn sie voneinander abgeschnitten oder beschädigt werden, gibt es keine Reserveschaltkreise, aus denen die emergente Eigenschaft des Gehirns gespeist wird.
    Unser subjektives Bewusstsein entsteht aus dem ständigen Bemühen unserer dominanten linken Hirnhälfte, die einzelnen
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