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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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sollten wir besser vorsichtig damit sein, andere für ihre Handlungen oder anti-soziales Verhalten verantwortlich zu machen.
    Quantenphysiker haben vorgebracht, dass es da durchaus Spielraum gebe, weil die Quantenmechanik die Newton’sche Konzeption von Materie ersetzt hat. Auf der atomaren und molekularen Ebene stößt man nämlich auf Unbestimmtheit, und das heißt, dass man das nächste Mal beim Nachtisch tatsächlich die freie Wahl hat zwischen dem Sahnetörtchen und dem Stück Himbeerkuchen. Solche Entscheidungen sind nicht schon seit dem Urknall festgelegt.
    Andererseits ist argumentiert worden, dass die Unbestimmtheit auf der Quantenebene für die Funktion des Nervensystems und des von ihm hervorgebrachten menschlichen Bewusstseins irrelevant sei. Die Neurowissenschaft geht heute allgemein davon aus, dass wir erkennen werden, wie das Gehirn den Geist hervorbringt, wenn wir nur erst seine Funktionsweise vollständig verstehen. Viele Neurowissenschaftler nehmen an, dass der Geist in einer aufwärtsgerichteten Kausalkette entsteht und dass alles festgelegt ist.
    Es scheint eine menschliche Eigenart zu sein, eindeutige Antworten auf jede Frage zu suchen – Ja oder Nein, Schwarz oder Weiß, alles oder nichts, absolute Determiniertheit oder völlige Zufälligkeit. Ich werde im Folgenden zeigen, dass es nicht so einfach ist und dass das Konzept der modernen Neurowissenschaft keineswegs aus einem deterministischen Fundamentalismus besteht. Vielmehr vertrete ich die Ansicht, dass Bewusstsein und Geist, die von physikalischen Prozessen im Gehirn auf eine spezifische Weise hervorgebracht werden, ihrerseits dieses Gehirn bestimmen. Genau wie politische Regeln vom Volk eingerichtet werden und es kontrollieren, wird auch das Gehirn vom Geist bestimmt, den es selbst hervorbringt. Muss die heute allgemein anerkannte Auffassung von der Kausalität als einziger Methode zum Verständnis der physikalischen Welt nicht um eine neue Denkweise ergänzt werden? Ist es nicht ratsam, die Wechselwirkung und gegenseitige Abhängigkeit von Gegenständlichem und Geistigem zu erfassen? Professor John Doyle vom Caltech weist darauf hin, dass Hardware und Software eines Computers nur durch ihre Wechselwirkungen miteinander funktional werden, es bis jetzt aber niemandem gelungen ist, diese Realität zu beschreiben. Wenn das Bewusstsein aus dem Gehirn entsteht, ist das ein dem Urknall vergleichbarer Vorgang. Der Straßenverkehr entsteht aus einzelnen Fahrzeugen und schränkt zugleich unser Fahrverhalten ein. Begrenzt der Geist nicht ebenso das Gehirn, das ihn hervorbringt?
    Dieses Problem taucht ebenso hartnäckig immer wieder auf wie ein Korken, den man unter Wasser drückt. Wer sich dazu äußert, wie sich der Geist zum Gehirn verhält und was das für die individuelle Verantwortlichkeit des Menschen bedeutet, kann sich der öffentlichen Aufmerksamkeit gewiss sein. Die Suche nach der Antwort auf diese Frage, die für unser Selbstverständnis als fühlende, planende und sinnsuchende Wesen essenziell ist, kann man gar nicht wichtig genug nehmen. Ich möchte einen Beitrag zu dieser Diskussion leisten, der dieses grundlegende Problem beleuchtet und meine Sicht auf jene Fortschritte beschreibt, die beim Verständnis der Wechselwirkung zwischen Geist und Gehirn erzielt worden sind. Bestimmt also der Geist das Gehirn oder arbeitet das Gehirn gleichsam von unten nach oben? Das ist keine einfache Frage – und an keiner Stelle schlage ich im Folgenden vor, der Geist sei vom Gehirn völlig unabhängig. Er ist es keineswegs.
    Wenn wir uns jetzt auf den Weg machen, sollten wir uns zunächst darüber klar werden, als was für eine Art Lebewesen wir uns heute im 21. Jahrhundert eigentlich verstehen. Während der letzten 100 Jahre ist ein enormer, geradezu einschüchternder Wissenzuwachs zu der Frage festzustellen, wie wir funktionieren. Die Frage ist, ob frühere Konzeptionen des Wesens der menschlichen Existenz dadurch obsolet geworden sind.
    Ich habe mich in diesem Buch verpflichtet gefühlt, zunächst das heute verfügbare Wissen darzustellen, das vielen der großen Denker der Vergangenheit noch unbekannt war. Keine der neurowissenschaftlichen Erkenntnisse über die Mechanismen des Denkens und des Geistes betrifft allerdings die Frage der Verantwortlichkeit – einen der Grundwerte des Menschen. Zur Untermauerung dieser Behauptung werde ich hier den Weg – und auch einige der Umwege – schildern, der uns auf unseren heutigen Wissensstand
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