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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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dann bewusst bemühten, ihn zu korrigieren. Auf einmal wussten Sie kaum noch die nächste Note. Am besten fing man dann von vorne an und hoffte, dass die Finger von selbst über die schwierige Stelle hinweg finden würden. Das ist auch der Grund, warum ein guter Klavierlehrer seinen Schülern rät, nicht aufzuhören, wenn man sich verspielt, sondern einfach weiterzumachen und die Automatik nicht auszuschalten. Ähnlich ist es im Sport. Denken Sie über den Wurf nicht lange nach, sondern werfen Sie den Ball einfach, wie Sie es im Training Hunderte Male getan haben! Ins Stocken kommt man nur, wenn das Bewusstsein sich einmischt und das Timing stört.

    Diese Tische sehen unterschiedlich aus, haben aber genau dieselbe Größe und Form, wie Sie sehen, wenn Sie die Seiten nachmessen.
    Die natürliche Selektion bevorzugt unbewusste Prozesse. Schnell und automatisch lautet das Erfolgsrezept. Bewusste Prozesse sind aufwändig: Sie brauchen nicht nur viel Zeit, sondern auch viel Platz im Gedächtnis. Unbewusste Prozesse dagegen sind schnell und regelgesteuert. Ein gutes Beispiel sind optische Täuschungen. Unser visuelles System nimmt bestimmte Schlüsselreize wahr und passt sie unserer Wahrnehmung automatisch an. Wenn Sie sich die beiden Tische in der Illustration ansehen, die sogenannte »Tischillusion« nach Roger Shepard, werden Sie nicht glauben, dass beide genau dieselbe Fläche und Form haben. Niemand glaubt es! Es kommt vor, dass Studierende im Einführungsseminar die Abbildung aus dem Lehrbuch ausschneiden, um die Bilder übereinanderlegen und nachsehen zu können, ob sie wirklich aufeinanderpassen. Ihr Gehirn berechnet nämlich automatisch Korrekturen, bei denen die Orientierung der Tischplatten im Raum berücksichtigt wird, und fügt sie ein – das können Sie sicher nicht abschalten. Auch wenn Sie die Illustrationen wirklich ausschneiden und übereinanderkleben, können Sie das Bild, das Ihr Gehirn daraus erzeugt, nicht bewusst ändern, um die Gleichheit der Umrisse zu erkennen. Wenn bestimmte Reize Ihr visuelles System dazu bringen, auf eine Täuschung hereinzufallen, dann verschwindet die Illusion auch dann nicht, wenn Sie sie verstanden haben. Der Teil des Gesichtssinns, der die Illusion hervorruft, ist bewussten Korrekturen unzugänglich. [11]

    Die Müller-Lyer-Täuschung
    Einige überzeugende optische Täuschungen betreffen allerdings nicht das Verhalten. Wenn man Probanden etwa die berühmte Müller-Lyer-Täuschung vorführt und sie dann mit den Fingern die Länge der beiden Linien mit den ein- und auswärts zeigenden Pfeilspitzen angeben sollen, ist der Abstand zwischen den Fingern beide Male derselbe, auch wenn das Auge die beiden Linien unterschiedlich lang wahrnimmt (den meisten Menschen erscheint die Linie mit den nach innen zeigenden Pfeilspitzen länger). Die Hand wird nicht getäuscht. Das legt nahe, dass die Prozesse, die dem gezeigten Verhalten zugrunde liegen, von denen der Wahrnehmung getrennt ablaufen. Ein visuomotorischer Prozess als Reaktion auf einen visuellen Reiz kann also unabhängig von der gleichzeitigen Wahrnehmung dieses Reizes ablaufen. 1 Das ändert sich allerdings, wenn das Bewusstsein ins Spiel kommt. Wenn die Probanden erst nach einer gewissen Zeit gebeten werden, die Länge der Linien mit den Fingern anzugeben, korrigieren sie den Abstand der Finger gemäß der optischen Täuschung.
    Reize können allerdings auch dann das Verhalten beeinflussen, wenn sie nicht bewusst wahrgenommen werden. In einer Studie zeigten Stanislas Dehaene 2 und seine Kollegen in Frankreich den Probanden zunächst sehr kurz (43 Millisekunden lang) einen sogenannten prime (einen Initialreiz, der die folgende Reaktion beeinflusst), der entweder aus einer Zahl in Ziffern oder in Worten bestand, und anschließend einen Maskierungsreiz (zwei zufällige Buchstabenfolgen). Die Versuchsteilnehmer konnten den Initialreiznicht verlässlich erkennen oder ihn von den Zufallsreizen unterscheiden, also war er nicht bis ins Bewusstsein vorgedrungen. Dann wurde den Teilnehmern eine zweite Zahl präsentiert, und sie sollten mit einer Hand einen Knopf drücken, wenn diese Zahl größer als fünf war, und mit der anderen Hand, wenn die Zahl kleiner als fünf war. Wenn sowohl der Initialreizals auch die zweite Zahl kleiner als fünf (und damit kongruent) waren, reagierten die Probanden schneller als bei inkongruenten Zahlen. Mit Gehirnscans konnten die Forscher zeigen, dass der prime, der nie das Bewusstsein erreichte und
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