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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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Ratten, Tauben und Kinder unter vier Jahren. Hingegen ist es die linke Hirnhälfte, die mit der Häufigkeitsanpassung arbeitet. Sie will unbedingt eine Ursache für die Häufigkeitsverteilung finden und bastelt sich eine subjektive Theorie, um sie zu erklären. Daraus schließen wir, dass die neuronalen Prozesse, die Muster in Ereignisfolgen feststellen, in der linken Hemisphäre sitzen. Die linke Hirnhälfte ist es, die den Menschen dazu treibt, Ordnung ins Chaos zu bringen, alles in ein Muster und in einen Zusammenhang zu setzen. Es scheint, dass sie auch dann Annahmen über die Struktur der Welt macht, wenn sie weiß, dass es kein Muster gibt. Sie lässt davon auch nicht ab, wenn das Ergebnis dadurch schlechter wird – wie zum Beispiel bei Spielautomaten.
    Es klingt seltsam, dass die linke Hirnhälfte so stur an einem mitunter schlecht angepassten Verhalten festhält. Warum haben wir solch ein System, das die Vorhersagegenauigkeit so negativ beeinflussen kann? Ganz einfach, meistens ist es der Situation doch angemessen, sonst hätten wir es nicht. Es gibt in der Welt sehr oft Muster mit feststellbaren und feststehenden Ursachen. Ein System, das sie herausfindet, hat uns überall Vorteile gebracht – außer in Vegas.
DIE ARBEIT DES INTERPRETEN
    Wenn wir erst einmal verstanden haben, dass es die Aufgabe des Interpretier-Prozesses ist, Erklärungen für oder Ursachen von Ereignissen zu finden, dann erkennen wir seine Arbeit in allen möglichen Situationen. Auch die Ergebnisse einer berühmten sozialpsychologischen Studie von 1980 lassen sich im Licht der Entdeckung des Interpretier-Mechanismus verstehen. Bei diesem Versuch wurde den Teilnehmern eine auffällige Gesichtsnarbe geschminkt, was sie in einem Spiegel mitverfolgen konnten. 7 Man sagte ihnen, sie würden ein Gespräch mit einer anderen Person führen und dem Versuchsleiter gehe es darum, wie sich das Verhalten dieses anderen Menschen durch die fingierte Entstellung der Versuchsperson ändere. Der Teilnehmer wurde gebeten, auf alle Verhaltensweisen zu achten, die er für eine Reaktion auf die Narbe hielt. Im letzten Moment sagte der Versuchsleiter noch, er müsse die Schminke anfeuchten, damit sie keine Risse bekomme. In Wirklichkeit jedoch entfernte er die Narbe, ohne dass die Versuchsperson davon wusste. Im Anschluss an das Gespräch mit der anderen Person wurden die Teilnehmer nach dem Verhalten des Gegenübers befragt und sie berichteten einhellig, dass diese sich furchtbar angespannt und herablassend verhalten habe. Bei der anschließenden Vorführung einer Videoaufzeichnung des Gesprächs sollten die Versuchspersonen dann jeweils benennen, wann die andere Person auf die Narbe reagiere. Sowie das Band lief, ließen sie es auch schon anhalten, weil ihr Gegenüber den Blick abgewandt hatte. Die Versuchsteilnehmer erklärten sich dieses häufige Abwenden des Blicks mit der Narbe. Das Interpretier-Modul hielt sich an die erste und einfachste Erklärung, die es aus den erhältlichen Informationen zusammensetzen konnte: Es gab eine entstellende Narbe, der Gesprächspartner schaute häufig weg, im Raum hielt sich sonst niemand auf und es gab keine Ablenkungen. Die Kausalerklärung drängte sich auf, dass der Gesprächspartner wegen der Narbe wegschaute. Der Interpret fühlte sich gezwungen, Ursache und Wirkung zu konstruieren. Er ist ständig damit beschäftigt, die Welt zu erklären, und benutzt dabei den Input aus dem gegenwärtigen kognitiven Zustand plus die aus der Umgebung vorliegenden Informationen. Nun schauen Gesprächspartner während einer Unterhaltung immer wieder kurz weg, aber es fällt einem normalerweise nicht auf. Die Information, dass ihr Gegenüber immer wieder wegsah, trat den Probanden nur deshalb ins Bewusstsein, weil sie auf solche Reaktionen achten sollten. Ihre ganze Geschichte, die in diesem Moment für sie die Wirklichkeit bedeutete, beruhte aber auf zwei falschen Voraussetzungen: (1) dass sie eine Narbe hatten, und (2) dass der Gesprächspartner ungewöhnlich oft wegschaute. Wir dürfen also nicht vergessen, dass die Erklärungen des Interpreten nur so gut sind wie die Informationen, die er erhält.
    Wir benutzen unser Interpretier-Modul tagaus, tagein, indem wir Situationen einschätzen, Informationen interpretieren und unsere physiologischen Reaktionen erkennen und auf diese Art und Weise alles erklären, was uns passiert. Im vorigen Kapitel haben wir gesehen, dass die rechte Hirnhälfte immer alles wörtlich nimmt und sich zum
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