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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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erblickt einen Hund] … ein Hund! Klar, ich habe Angst vor Hunden!« Wenn endogene Störungen auf natürlichem, therapeutischem oder medikamentösem Weg geheilt werden, bleiben die Interpretationen, die dem veränderten Gefühlszustand gegeben wurden, trotzdem weiter bestehen. Sie sind dem Gedächtnis eingeprägt, und so kann es zu Phobien kommen.
    Wie meine Kollegen und ich zufällig herausfanden, interpretiert der Interpret nicht nur, was wir fühlen und warum wir uns auf eine bestimmte Weise verhalten. Er übersetzt auch, was sich innerhalb des Gehirns abspielt. Bei Versuchen mit unserer Patientin VP bemerkten wir, dass sie unerwarteterweise einige Zusammenhänge herstellen konnte, die anderen Split-Brain-Patienten nicht zugänglich waren. Wenn wir beispielsweise bei den anderen Patienten einer Hirnhälfte das Wort head (»Kopf«) und der anderen das Wort stone (»Stein«) zeigten, dann zeichnete der Patient einen Kopf und einen Stein, während Sie und ich einen headstone (»Grabstein«) zeichnen würden. Was ging da vor? Bei unseren Tests an Split-Brain- und anderen neurologischen Patienten mussten wir ständig darauf achten, wo genau die Information integriert und verortet wurde, ob innerhalb oder außerhalb des Körpers. Schließlich sucht das Gehirn ständig nach Informationen, um verloren gegangene Prozesse und Fähigkeiten auszugleichen. Split-Brain-Patienten bewegen zum Beispiel oft den Kopf, damit visuelle Reize aus beiden Sehfeldern beide Hirnhälften erreichen, oder sie sprechen sich etwas laut vor, damit die rechte Hirnhälfte über das Gehör Informationen von der linken erhält. Weitere Tests ergaben, dass VP keine bildlichen Informationen über Form, Größe oder Farbe einer Darstellung zwischen den beiden Hirnhälften übertragen konnte. Wenn sie aber zum Beispiel die Wörter rot und Viereck sah, wurden diese in die andere Hälfte übertragen, und diese konnte dann das rote Viereck auswählen. Es stellte sich heraus, wie sich im MRT-Scan zeigen ließ, dass bei ihrer Operation einige Nervenfasern im vorderen Teil des Corpus callosum nicht durchtrennt worden waren. Mit diesen Fasern wurden gedruckte Wörter von einer Hemisphäre in die andere übertragen, so dass ihre linke Hemisphäre dieselben Wörter wie die rechte sah. Der Interpret hatte also den Input beider Wörter, head und stone, und fügte sie zusammen.
    Beim Patienten JW dagegen war die Verbindung zwischen beiden Großhirnhälften völlig durchtrennt und unterbrochen. Beim ihm wird keine Information zwischen beiden Hälften übertragen. Jede derartige Übertragung findet außerhalb des Körpers statt, aber sehr geschickt und schnell, so dass sie wie innerhalb des Gehirns erscheint. Wir zeigten seiner linken Hirnhälfte das Wort Auto und seiner rechten die Jahreszahl 1928 und baten ihn zu zeichnen, was er gesehen hatte. Er ist ein guter Zeichner und interessiert sich für Autos. Mit seiner linken Hand (die nur von seiner rechten Hirnhälfte informiert wird, die die Jahreszahl 1928 gesehen hatte) zeichnete er daraufhin einen Oldtimer von 1928! Irgendwie kooperierten beide Hirnhälften in ihrer motorischen Aktivität und erzeugten das Bild, aber die Zusammenarbeit fand außerhalb des Körpers auf dem Zeichenpapier statt. Während die linke Hand des Patienten zeichnete, sah die linke Hirnhälfte, was da entstand, und beeinflusste den Prozess, aber nicht im Gehirn, sondern als Ergebnis der äußeren Handlungen der anderen Hemisphäre.
    Während unser vorwitziger Interpret ständig Verhaltensweisen, Gedanken und Emotionen erklärt, die unser verteilter Parallelrechner erzeugt, stellt sich die Frage, ob die rechte Hemisphäre vielleicht auch ein solches Modul hat. Wie so oft in der Hirnforschung kommen überraschende Dinge ans Licht, wenn man Fragen nachgeht, die erklärt werden müssen. Die rechte Hirnhälfte folgt, wie erwähnt, immer der Maximierungsstrategie. Wir fanden jedoch heraus, dass sie auch mit Häufigkeitsanpassung arbeitet, wenn sie Reize erhält, auf die sie spezialisiert ist, zum Beispiel bei der Gesichtserkennung. Bei dieser Aufgabe sollten die linke und die rechte Hirnhälfte jeweils raten, ob das Gesicht, das sie gezeigt bekommen würden, einen Bart haben würde (das war bei 30 Prozent der vorgeführten Bilder der Fall). Die linke Hemisphäre, die auf diese Aufgabe nicht spezialisiert ist, antwortet in diesem Fall nach der Zufallsstrategie. 9 Das brachte uns zu der These, dass eine Hirnhälfte jeweils dann die Kontrolle an die
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