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Die Ich-Illusion

Die Ich-Illusion

Titel: Die Ich-Illusion
Autoren: Michael Gazzaniga
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Beispiel genau an vorgezeigte Gegenstände erinnert, während die linke auch falsche erkennt, wenn sie den richtigen ähnlich genug sind. Die linke Hirnhälfte arbeitet, wie geschildert, mit etwas unscharfen Begriffen (um nicht zu sagen, sie pfuscht). Unser Interpret tut das nicht nur mit Gegenständen, sondern auch mit Ereignissen. Bei einem Versuch zeigten wir gesunden Teilnehmern mit intakter Verbindung der Hirnhälften eine Serie von 40 Bildern, auf denen ein Mann zu sehen war, der am Morgen erwachte, sich ankleidete, frühstückte und zur Arbeit ging. Später sollten die Teilnehmer dann aus dem Gedächtnis die Bilder, die sie gesehen hatten, wiedererkennen. Dazu gaben wir ihnen eine andere Bilderserie, die teilweise aus den Originalbildern bestand, teilweise aus solchen, die nicht dabei gewesen waren, aber leicht in die Geschichte passten. Außerdem enthielt die zweite Bilderserie teilweise auch solche Bilder, die gar nichts damit zu tun hatten (darauf war etwa zu sehen, wie der Mann Golf spielte oder den Zoo besuchte). Menschen wie Sie und ich fassen in diesem Fall die korrekten und die ähnlichen Bilder zusammen und sortieren die unpassenden aus, und bei den Split-Brain-Patienten reagiert die linke Hemisphäre so. Die rechte aber macht es anders, weil sie, wie wir gesehen haben, wörtlich und buchstäblich reagiert; sie erkennt nur die wirklich gesehenen Bilder und nicht die bloß ähnlichen. Die linke Hirnhälfte sieht den Zusammenhang der Geschichte und akzeptiert alles, was mit diesem übereinstimmt, wirft aber alles hinaus, was nicht in diesen Ablauf passt. Dadurch arbeitet sie zwar ungenauer, kann aber neue Informationen leichter verarbeiten. Die rechte Hirnhälfte sieht den Zusammenhang dagegen nicht; sie ist absolut unflexibel und akzeptiert kein Bild, das nicht auch in der ursprünglichen Bilderserie vorkam. Deshalb wird auch Ihr dreijähriges Kind Sie gnadenlos berichtigen, wenn Sie beim Wiedererzählen eines Märchens die Einzelheiten ausschmücken. Das Kind folgt noch der Maximierungsstrategie, und der Interpret in der linken Hemisphäre, der mit dem richtigen Zusammenhang zufrieden ist, läuft noch nicht auf vollen Touren.
    Wie gesagt – das Interpretier-System hat viel zu tun. Wir haben gesehen, dass es sogar im emotionalen Bereich aktiv ist und versucht, Stimmungsänderungen zu erklären. Bei einer unserer Patientinnen lösten wir in der rechten Hemisphäre eine negative Stimmung aus, indem wir ihr ein beängstigendes Sicherheitsvideo über Brandrisiken zeigten, in dem ein Mensch in ein Feuer gestoßen wurde. Als sie gefragt wurde, was sie gesehen habe, antwortete die Patientin: »Ich weiß es eigentlich nicht genau. Es könnte ein weißer Blitz gewesen sein.« Aber als sie gefragt wurde, ob es bei ihr Emotionen auslöse, erwiderte sie: »Ich weiß eigentlich nicht warum, aber ich bin ein bisschen ängstlich. Etwas macht mich nervös – vielleicht ist es das Zimmer oder Sie sind es. Sie machen mich nervös.« Sie wandte sich an einen der Assistenten: »Ich weiß, dass ich Dr. Gazzaniga eigentlich gern mag, aber im Moment habe ich aus irgendeinem Grund Angst vor ihm.« Sie fühlte die emotionale Reaktion auf das Video – alle autonomen Ergebnisse der rechten Hirnhälfte –, wusste aber nicht, warum sie sich so fühlte. Der Interpret in der linken Hirnhälfte musste nun eine Erklärung für ihre Ängstlichkeit finden. Die Informationen, die er aus der Umwelt erhielt, waren, dass ich mich im Raum aufhielt und ihr Fragen stellte und ansonsten alles in Ordnung war. Die erste sinnvolle Erklärung, die ihr einfiel, war, dass ich sie ängstige. Faszinierend dabei ist, dass Tatsachen zwar schön und gut, aber nicht unbedingt notwendig sind. Die linke Hirnhälfte nimmt, was sie kriegen kann, und improvisiert den Rest. Der erstbeste Zusammenhang ist gut genug, und in diesem Fall war dann also der Versuchsleiter schuld. Der linkshemisphärische Interpret schafft Ordnung aus dem Durcheinander, das ihm die von den anderen Prozessen ausgespuckten Informationen präsentieren. Wir wiederholten den Versuch mit einem anderen Gefühlszustand und einer anderen Patientin. Als wir ihrer rechten Hirnhälfte das Bild eines Pin-up-Girls zeigten, kicherte sie. Auch sie gab an, nichts gesehen zu haben, aber als ich sie fragte, warum sie lache, erwiderte sie, wir hätten da schon eine komische Maschine. Das macht unser Gehirn den ganzen Tag so. Es nimmt den Input anderer Hirnareale und die Informationen aus der
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