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Der rote Planet

Titel: Der rote Planet
Autoren: Alexander A. Bogdanow
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1. Die Trennung
    Die Ereignisse haben sich zugetragen, als in unserem Lande der
große
Umbruch gerade anhob, jener Umbruch, der bis in die Gegenwart
fortwährt
und sich nun wohl seinem unabwendbaren schrecklichen Ende
nähert.
    Die ersten, blutigen Tage hatten das gesellschaftliche
Bewusstsein
so tief aufgewühlt, dass alle einen schnellen und klaren
Ausgang des
Kampfes erwarteten: Das Schlimmste schien vorüber zu sein, und
schlimmer konnte es nicht kommen. Niemand vermochte sich vorzustellen,
wie hartnäckig die knochigen Hände eines Toten einen
Lebenden
krampfhaft umklammern und würgen können.
    Kämpferischer Enthusiasmus bemächtigte sich
der Massen. Die Menschen
öffneten ihre Herzen, grenzenlos auf die Zukunft vertrauend;
die
Gegenwart verschwamm in rosigem Nebel, die Vergangenheit
entrückte in
die Ferne. Alle Beziehungen zwischen den Menschen wurden wankend und
brüchig wie nie zuvor.
    In diesen Tagen geschah, was mein Leben völlig
veränderte und mich aus dem Strom der Volkserhebung riss.
    Ungeachtet meiner siebenundzwanzig Jahre war ich ein
»alter«
Parteiarbeiter. Ich hatte sechs Jahre revolutionäre
Tätigkeit
aufzuweisen, lediglich unterbrochen von einem Jahr Festungshaft. Eher
als viele andere spürte ich das Nahen des Sturms, und
gelassener als
sie begegnete ich ihm. Arbeiten musste ich mehr als früher,
dennoch gab
ich weder meine wissenschaftliche Betätigung auf—
mich interessierte
besonders der Aufbau der Materie —, noch beendete ich meine
literarischen Versuche: Ich schrieb für Kinderzeitschriften,
um meinen
Lebensunterhalt zu bestreiten. Zu der Zeit liebte ich... oder glaubte
zu lieben.
    Ihr Parteiname war Anna Nikolajewna.
    Sie gehörte zum anderen,
gemäßigteren Flügel unserer Partei. Ich
erklärte das mit ihrer Sanftmut und der allgemeinen
Verworrenheit der
politischen Verhältnisse in unserem Land; obwohl Anna
Nikolajewna älter
war als ich, hielt ich sie nicht für einen innerlich
gefestigten
Menschen. Darin irrte ich mich.
    Sehr bald, nachdem wir uns vereinigt hatten, trat der
Unterschied
unserer Naturen immer merklicher und schmerzlicher zutage. Wir hatten
stets gegensätzliche Ansichten über unser
Verhältnis zur revolutionären
Arbeit und den Sinn unserer Verbindung.
    Anna Nikolajewna beschritt unter dem Banner von Pflicht und
Opfer
den Weg in die Revolution, ich marschierte unter dem Banner meines
freien Willens. Der großen Bewegung des Proletariats hatte sie
sich als
Moralistin angeschlossen, die in der höheren Sittlichkeit der
Arbeiterklasse ihre Befriedigung findet, ich hingegen als Amoralist,
der einfach das Leben liebt. Dieses Leben sollte erblühen, und
deshalb
hatte ich mich in den Zug eingereiht, der sich auf der
Hauptstraße der
Geschichte bewegte und dieses Erblühen des Lebens
verkörperte. Für Anna
Nikolajewna war die proletarische Ethik an sich geheiligt, ich hielt
sie für eine nützliche Richtschnur, der
Arbeiterklasse in ihrem Kampfe
unabdingbar, aber vergänglich wie dieser Kampf selbst und die
Lebensordnung, die sie hervorgebracht hatte. Nach Anna Nikolajewnas
Meinung sollte in der sozialistischen Gesellschaft die Klassenmoral des
Proletariats in eine allgemein verbindliche Moral umgewandelt werden,
während ich meinte, das Proletariat würde schon jetzt
mit der
Abschaffung jedweder Moral beginnen und das soziale Empfinden, das die
Menschen bei der Arbeit wie bei Freude und Leid zu Genossen werden
lässt, könne sich erst dann frei entwickeln, wenn es
die
fetischistische Hülle der Sittlichkeit ablege. Aus diesen
unterschiedlichen Ansichten erwuchsen nicht selten
widersprüchliche
Bewertungen von politischen und sozialen Tatsachen. Diese
Widersprüche
waren offensichtlich nicht miteinander zu versöhnen.
    Noch schärfer klafften die Ansichten über
unsere privaten
Beziehungen auseinander. Anna Nikolajewna meinte, die Liebe verpflichte
zu Zugeständnissen, zu Opfern und vor allem zur Treue, solange
die Ehe
währe. Ich dachte wahrhaftig nicht daran, neue Bindungen
einzugehen,
dennoch konnte ich die Verpflichtung zur Treue nicht gelten lassen,
eben weil es eine Verpflichtung war. Ich hielt sogar die Polygamie
für
prinzipiell höher stehend als die Monogamie, weil sie dem
Menschen
einen größeren Reichtum persönlichen Lebens
und größere Vielfalt bei
der Vererbung von Anlagen zu geben vermag. Meiner Ansicht nach machen
nur die Widersprüche der bürgerlichen
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